Die Rheintöchter und das Rheingold

Sozialpsychologie in musiktheatralischer Darstellung

Über Eros und Macht bei Richard Wagner

 

Erster Handlungsstrang

 

Das Leben „war“ einfach, bedürfnisorientiert und erotisch. - Das „war“ in mythologischer Redeweise ist „projektiv“ und bedeutet“ „könnte sein“. Der Indikativ, wenn er ein mythologischer ist, ist also nur ein scheinbarer, kein wirklicher. - Jetzt jedenfalls ist das Leben sehr weitgehend macht- und verwertungsorientiert. Bei weitem nicht so erotisch, wie es „war“.

 

Die Rheintöchter, eine erste Sorte mythologischer Urwesen in Wagners Ring-Dichtung, sind trotz ihres fischartigen Wesens höchst attraktive Wasserjungfrauen. Sie tragen niedliche, bunte Badeanzüge, die reizvolle Rundungen weit weniger verbergen als hervorheben. [Erregung der Einbildungskraft ist eine Möglichkeit, etwas auch ohne Sichtbarkeit zur Geltung zu bringen.] Zuerst plätschern sie im Flusswasser und trällern ein sorgloses Liedchen dabei. Dann tauchen sie hinab zu einem Goldschatz, der auf dem Boden des Flusses liegt: es handelt sich um das Rheingold, das sie im Auftrag ihres Vaters, - Vater Rhein höchstpersönlich -, bewachen sollen. Sie schwimmen um das Gold herum und freuen sich darüber, wie es im Spiel der Wellen und in der Frühsommersonne auf besonders schöne Weise glänzt.

Die Rheintöchter verkörpern die ursprüngliche Unschuld des Werdens, den Urzustand der Natur; - als die Natur reine Harmonie ohne die Beigabe schmerzlicher Missklänge war. Das Gold war zu dieser Zeit ein natürliches Mineral mit der hauptsächlichen Eigenschaft, besonders schön im Sonnenlicht zu leuchten. Man nutzte es damals nicht als Rohstoff der Goldschmiedekunst und erst recht nicht zum Guß von Barren oder zur Münzprägung, denn zu dieser Zeit gab es noch keine Geldwirtschaft. Niemand hortete Gold, es taugte nicht zur Kaufkraftanhäufung, es gab zu dieser Zeit weder Warenproduktion noch Tauschhandel. Es herrschte, wie man heute sagt, ‚lediglich’ Naturalwirtschaft. Im Grunde genommen produzierte damals niemand für den Markt oder für den Tauschhandel. Gold und Geld waren zu dieser Zeit keine gesellschaftliche Macht und konnten auch nicht als Werkzeug hierzu genutzt werden. [Das eine ohne das andere ist wahrscheinlich nicht möglich.]

So erinnern uns die Rheintöchter an eine Zeit, als das Leben einfach, ursprünglich und zudem sehr erotisch war. Falls man damals arbeiten musste, - und ich würde fast wetten, dass das nicht der Fall war -, so diente die bedürfnis- und fähigkeitsgerechte Arbeit, die man damals verrichtete, jedenfalls nicht dem Lohnerwerb, sondern lediglich unmittelbarem Bedürfnis.

 

Die komplizierte Mittelbarkeit der ‚modernen’ Lebensführung ist vermutlich ein Hauptpunkt unseres zivilisatorischen ‚Unbehagens’. [S. Freud spricht vom ”Unbehagen in der Kultur”.] Was wir tun, tun wir in den meisten Fällen um anderer Zwecke [willen] oder eines erwarteten Nutzens wegen und nicht aus Interesse an der Tätigkeit selbst, wie z.B. wenn wir [als Amateure] tanzen um des Tanzens willen.

Um ein Bedürfnis zu befriedigen, müssen wir erst einmal ein anderes Bedürfnis befriedigen. Um etwas zu tun, das uns gefallen würde, müssen wir erst einmal etwas anderes tun, das uns nicht so gut gefällt. In dieser mühseligen Kette von Bedingungen und Voraussetzungen bleibt die Lust des Befriedigung erfahrenden Bedürfnisses allzu oft auf der Strecke. – Die bekannte Forderung [z.B. der Anhänger von ”sex, drugs and rock ´n roll”] nach Bedürfnisbefriedigung ”hier und jetzt” gründet in der Erkenntnis dieser Problemlage und versucht durch eine Art ”Übersprungshandlung” eine spontane Lösung zu finden, was allerdings zu neuen problematischen Konsequenzen führt.

Da wir in komplexen Sozial-Verhältnissen von kaum zu durchschauenden Abhängigkeiten und Wechselwirkungen leben, sind die Ergebnisse unserer Handlungen oft Situationen, die ‚in dieser Form’ [”so”] niemand gewollt und vorausgesehen hat. Ein System der Arbeitsteilung und mittelbaren Bedürfnisbefriedigung, das von allen oder den meisten Beteiligten als gerecht und sinnvoll angesehen wird, ist von der politischen Menschheit bis heute nicht erfunden worden.

So ungefähr sieht die Not des Menschen unter gesellschaftlichen Existenzbedingungen [speziell nach der industriellen Revolution] aus:

Nicht allein die Mittelbarkeit der Bedürfnisbefriedigung schafft die modernen sozialpsychologischen Probleme. Wichtig ist auch der Gesichtspunkt, dass diese sehr weitgehende Mittelbarkeit [menschlicher Bedürfnisbefriedigung] gesellschaftlicher Art ist und unter Bedingungen der industrieller Warenproduktion stattfindet. Außerhalb des Gefüges [des ‚Systems’] gesellschaftlicher Arbeitsteilung vermag der einzelne fast nichts von dem zu erzeugen, was er [zum individuellen Lebenserhalt] braucht. In der globalisierten Wirtschaft erreicht die Mittelbarkeit der Abhängigkeit aller Einzelnen von einem weltwirtschaftlichen Ganzen ein Extrem. Dass dieses Ganze nicht nach einem allseits verabredeten und im Konsens gebilligten Gesamtplan funktioniert, setze ich voraus. Die große Frage ist, ob und wie eine solche hochkomplexe Ganzheit im Einklang mit menschlichen Gerechtigkeitsvorstellungen gesteuert werden kann.

 

Die Unschuld der Natur besteht darin, dass sie vom Menschen und seinen sozialpsychologischen Problemen nichts weiß. Wagner verbindet mit dem Bild des ”ewig” fließenden Rheins die utopische Projektion einer Wirklichkeit ohne Fabriken, ohne Arbeitsteilung und ohne Geldwesen; - aber dennoch mit den attraktiven Rheintöchtern beim Badevergnügen.

 

Das Bild des wirklichen Rheines ist von aufschlussreicher Doppelgesichtigkeit. Wir sehen vor unserem inneren Auge nicht nur die romantische Rheinlandschaft von Bingen bis Boppard, mit Burgen und Weinbergen, die Loreley usw., sondern auch riesige Industrielandschaften. Der Rhein war schon lange einer der wichtigsten europäischen Handelswege. Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde er zum bedeutenden Transportweg für industrielle Güter. Wegen der verkehrslogistischen Möglichkeiten, die der weitverzweigte, sechs europäische Länder verbindende Fluss bot, ergaben sich Ansiedlungen unterschiedlicher Industriezweige, z.B. die Chemiewerke der BASF in Ludwigshafen, Bayer in Leverkusen, Stahlwerke von Krupp und Thyssen im Ruhrgebiet, nebst zahlreichen Zuliefererbetrieben. Viele Städte der Rheinregion expandierten im Gefolge der industriellen Erschließung oder wurden, wie Ludwigshafen, überhaupt erst gegründet.

 

Wagners Rheingold beginnt erst einmal mit der Darstellung des Rheines als Naturidylle; das Bild des ewig fließenden Rheins und des rheintöchterlichen Badevergnügens evoziert eine romantische Projektion: die Unschuld des Werdens in erotischer Urzeit.

 

Die musikalische Darstellung des ursprünglichen Naturzustands, in dem das Gold lediglich der Erzeugung interessanter Lichteffekte in einer Unterwasserwelt dient, ist eine Melodie ohne eigentliche Melodie: Ein gebrochener Akkord, zuerst in den tiefsten Hörnern intoniert, dann in einer sich beschleunigenden Wellenbewegung aufsteigend bis in die höheren Violinen, mehr und mehr prächtig instrumentiert: 136 Takte reines Es-Dur; - das sind ca. 7 Minuten lang die gleiche Harmonie ohne fremdartige Zutaten (Alteration und Modulation) als Darstellung der Urnatur ‚ewig’ unschuldigen Werdens vor dem Auftauchen des gesellschaftlich organisierten Menschen. Diese ‚Melodie’ ist ein Beispiel für ‚Wagners wonniglich Walten’, mit diatonischen Ausdrucksmitteln erzielt, im Unterschied zur exzessiven Verwendung chromatischer Klänge und Tonfolgen in Tristan und Isolde.

 

Es soll hier nicht gänzlich übergangen werden, dass das Leben unter vorgeschichtlichen Bedingungen in Wahrheit von einer für uns fast unvorstellbaren Härte geprägt war, wobei das ‚Phänomen’ des Erotischen aller Wahrscheinlichkeit nach weitgehend unbekannt war. Regelmäßige Hungersnöte, furchtbare Infektionskrankheiten, Befall durch Lungen- und Hakenwürmer, welche die inneren Organe zerstörten, waren schrecklich für unserer Vorfahren, welche von ihrer genetischen Anlage her Menschen waren wie du und ich. Sie starben im Durchschnitt nicht nur sehr viel früher als wir heutzutage, - die wir ja fast alles überleben -, sondern sie starben mangels entsprechender Linderungs- und Heilungsmittel in vielen Fällen auf sehr viel unangenehmere Weise als wir heute.

[Eine weitere Bemerkung möchte ich hier ebenfalls nicht zurückhalten: Die Einrichtung von Toiletten war unseren urtümlichen Vorfahren gänzlich fremd, nicht jedoch der Kannibalismus.]

 

Alberich ist wie die Rheintöchter ebenfalls ein mythologisches Urwesen der damaligen, ‚vorgeschichtlichen’ Zeit, aber von einer ganz anderen Sorte. Er besitzt weder körperliche Schönheit noch die Gabe anmutigen Gesangs. Er ist Abkömmling der ‚Niblungen’, eines Zwergengeschlechts, die in finsteren, feuchten, halb unterirdischen Höhlen und Felsklüften hausen. Ihr Land heißt Nibelheim bzw. Nebelheim. Dort fristen sie ein karges Dasein ohne Wissenschaft, Gesang und höhere Kultur; - einzig den nächstliegenden Bedürfnissen einer anspruchslosen Lebensführung zugetan. – Ganz ohne Kunst leben sie indessen nicht. Sie sind gewandte Metallschmiede, und ihre Schmiedekunst erstreckt sich bis in den Bereich hinein des gehobenen Kunsthandwerks für Schmuck- und Ziergegenstände.

 

Diese Zwerge sind Schmiede von großer Kunstfertigkeit. Ihre Werkstücke erhalten durch in sie gelegten Zauberkräfte eine besondere Bewandtnis. Manchmal hat es eine heilbringende Bewandtnis mit solchen Werkstücken, oft allerdings sind sie fluchbeladen und ihr Zauber wirkt tödlich..

 

A. ist an diesem Tag recht munter und vital. Er turnt und klettert in den Rheinklippen herum, wahrscheinlich während eines sonntäglichen Ausflugs in der wärmenden Frühsommersonne.

 

[Nach der Eröffnung eines Nibelungen-Museums in der Stadt Worms (August 2001) bewegt uns heute die Frage nach den historischen Nibelungen, die im 5. Jahrhundert, am Ende der Völkerwanderungszeit, in der Umgebung von Worms und Alzey ein Staatswesen betrieben: das Königreich der Burgunder. Der Untergang dieses Staatswesens wurde von Aetius, dem damaligen weströmischen Machthaber, mit Hilfe der Hunnen, eines gefürchteten Reitervolkes, herbeigeführt. [Die wenigen Überlebenden der diesbezüglichen grausamen Exzesse wurden in der Landschaft des heutigen Burgunds, d.i. in Südfankreich, angesiedelt.] Diese Vorgänge bilden die historische Kulisse des Nibelungenlieds, ein Epos des Untergangs und der Zerstörung, in der Siegfried, Hagen, König Gunther, Brünnhilde und Kriemhilde als Protagonisten auftreten.

Wagners Ringdichtung ist eine Neuschöpfung (negativ ausgedrückt: ein ‚Elaborat’) aus allerlei vorfindlichen Materialien: er schöpfte aus mehr als einer Quelle, und wohl eher aus der alt-isländischen Edda-Dichtung als aus dem Nibelungenlied, die alle aus der Zeit zwischen 1000 und 1200 stammen. Und Wagner gab dem ‚neugeschöpften’ Mythos darüber hinaus zeitgeschichtliche und sogar persönliche Bezüge. [Ich denke an seine Geldprobleme und Liebesnöte.] Je nach Standpunkt lässt sich sein Verfahren als eine originelle Neukombination überlieferter Materialien loben oder als fragwürdiges und unseriöses Mischwerk bemängeln.

Wagners ‚Niblungen’ sind mythologisch und ‚vorhistorisch’. Siegfried, Brünnhilde, Hagen und Gunther sind ursprünglich eigentlich keine Niblungen. In diesem Punkt gilt die Logik des Nibelungenlieds: Nibelungen sind diejenigen, deren Herrscher über den Nibelungenhort gebieten.

Wagners mythologische Niblungen ähneln dem Industrieproletariat in der Zeit des Manchesterkapitalismus: arme Kreaturen an der Schwelle des Menschseins, in feuchten Wohnungen hausend, in einer unterirdischen, nebligen Industrielandschaft agierend. In emsiger, unselbstständiger Arbeit und Maloche erzeugen sie im Dienst mächtigen Industrieinteresses den glänzenden Reichtum der Geldwirtschaft, weder zu eigenem Nutzen noch zu eigener Freude. [Eine ziemlich finstere Angelegenheit.]]

 

Als Alberich die Rheintöchter im Sonnenlicht erglänzen sieht, sind sie für ihn die Verkörperung von Anmut und Reiz des Lebens schlechthin. Was eine knauserige Natur ihm vorenthalten hat, das besitzen diese Flusstöchter ganz wie selbstverständlich: Anmut, Liebreiz, Phantasie und Musik. [”Wunderbare Welt, die solche Geschöpfe birgt!” denkt er sich.]

 

Alberichs Verlangen wird durch den Anblick der liebreizenden Frühlingsgeschöpfe entflammt, aber er bemüht sich vergebens darum, ihnen näher zu kommen. Schadenfreudiger Spott wird ihm zuteil. Als er erkennen muss, dass keine der gewandten Schwimmerinnen sich fangen lassen möchte, gerät er vor Ärger und Wut außer sich.

 

Die Rheintöchter sind nicht unschuldig am Desaster des Alberich. Als sie seine Liebestollheit bemerken, machen sie ihm erst einmal Hoffnungen, bevor sie sich ihm wieder entziehen. Sie reizen ihn mächtig und stacheln ihn auf. Dabei hatten sie ihn schon von Anfang an als abstoßend empfunden, als hässlich und unliebenswürdig. Und das ist er ja auch tatsächlich.

 

Alberich erfährt aus dem Gesang der Wasserjungfrauen, dass derjenige ‚maßlose Macht’ gewinnen könnte, dem es gelänge, aus dem Rheingold einen besonderen Ring zu schmieden. Es ist der Ring plutonischer Macht, der gewaltigen Macht des Geldes im menschlichen Leben.

 

”Der Welt Erbe

gewänne zu eigen,

wer aus dem Rheingold

schüfe den Ring,

der maßlose Macht ihm verlieh.” (Wellgunde, Rheingold, 1)

 

A. beschließt, sich diese Macht zu erwerben, um sich erzwingen zu können, was ihm ansonsten versagt bleiben muss.

 

Wir befinden uns in guter literarischer Gesellschaft, wenn wir die Hypothese wagen, dass die Wünsche nach ungehindertem erotischen Streben und unermesslichem Reichtum kulturgeschichtlich und tiefenpsychologisch eng zusammen hängen. Goethe z.B. schämte sich nicht, in Faust II einige Zoten zu dichten. Er hielt Sexualgier und Geldgier für die ”tiefste Natur des Lebens”. Da Faust darauf aus war zu erkennen, ‚was die Welt im Innersten zusammen hält’, ist dies zum Thema einschlägig gewesen.

 

Der Verheißung der Macht ist allerdings an eine schwierige Bedingung geknüpft. Machterwerb erfordert harte, saure Arbeit, dazu die erklärte Absage an brotlose Künste und unproduktive Liebesfreuden; - kurz gesagt: ein entbehrungsreiches Leben.

 

”Nur wer der Minne

Macht entsagt

Nur wer der Liebe

Lust verjagt,

nur der erzielt sich den Zauber,

zum Reif zu zwingen das Gold.” (Woglinde, Rheingold, 1)

 

Die maßlose Macht des Ringes ist plutonische Macht im Gegensatz zur olympischen [politischen] Macht der Götter, die wir wenig später kennen lernen werden. Bei der plutonischen Macht handelt es sich um die Macht des Goldes und des Geldwerts. Es ist ziemlich klar, dass es bei dieser Art von Macht letztlich um die Macht der Mächte gehen wird, um die Dominanz über alle anderen Formen der Macht, also auch über die politische, die Wotan besitzt. Die politische Macht Wotans besteht in der Kompetenz, sich mit den Regeln des sozialen Zusammenlebens [bzw. deren ”Leitlinien” und ”Rahmenbedingungen”] zu beschäftigen, einmal mit Fragen ihres Entwurfs, ihrer Ausgestaltung und Fixierung,  zum andern aber auch mit Fragen der Anwendung dieser Regeln in strittigen Situationen. Das Prinzip der plutonischen Macht ist zunächst etwas anderes: ein reiner Selbstläufer sich selbst mehrender Kaufkraft um ihres Selbsterhalts und um ihrer Selbstmehrung willen. Später ergibt es sich allerdings, dass diese Machtform mit allen übrigen Mächten, also auch mit der alten politischen Macht, in Wettstreit um die Vorherrschaft [in der Gesellschaft] treten wird.

 

Es ist ein uranfängliches Verhängnis, dass die Verwandlung des Goldes in gesellschaftliche Macht Liebesverzicht erfordert. Allgemein gesprochen: es gilt den Schritt zu einer Abwendung von den natürlichen Bedürfnissen zu ihrer eher indirekten Befriedigung hin zu vollziehen, wodurch die Bedürfnisse sich am Ende selbst verändern. Alberich entscheidet sich in seiner Frustration dafür, das Verhängnis in Gang zu bringen. Die Tatsache aber, dass der Machterwerb ohne Liebesverzicht überhaupt nicht möglich ist, ist ihm nicht zuzurechnen. Diese Bedingung stellt ein uranfängliches Verhängnis dar.

Es ist sozusagen das Verhängnis der menschlichen Natur, einen Zivilisations- und Kulturprozess in Gang zu bringen, in dem sich der Gegensatz von Natur und Kultur in der gesellschaftlichen Entwicklung erzeugt. Die Vorstellung eines Einklangs natürlicher und gesellschaftlicher Bedürfnisse wird dabei zur bloßen Utopie einer befreiten menschlichen Gesellschaft, bzw. zur rückwärts gewandten Projektion eines goldenen Zeitalters in allgemeiner, uranfänglicher Harmonie [wechselseitiger Erwartungen], als noch nicht alles wegen weitläufig mittelbarer Bedürfnisbefriedigung getan wurde, welche ihre ursprünglichen Zwecke oft genug aus den Augen verliert.

 

Es ist vielleicht ein Motiv subversiver, pessimistischer Romantik, gesellschaftlich organisierte Macht und Öffentlichkeit nicht nur faktisch, sondern ab initio für unheilbringend, verderbt und im Wesentlichen für unverbesserlich zu halten. Deshalb der Schlussgesang der Rheintöcher: ”Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe: falsch und feig ist, was dort oben sich freut.” (Rheingold, 4)

 

Alberich, typisch Mann, wie wir ihn kennen, macht sich in selbstquälerischer Weise die Auffassung zu Eigen, dass die erotische Attraktivität des Mannes vor allem auf Machtbesitz und gesellschaftlichem Status beruhe. Diese Auffassung spielt für die Substitution erotischen Strebens durch Machtstreben eine große Rolle. Da er die entbehrte Macht für die [ihm fehlende] Erotik des Mannes hält, muss er abgründig leiden. Er ist [zu diesem Zeitpunkt] ein Wesen ohne besondere Vorzüge, ohne höhere Bildung und ohne besondere Fähigkeiten, nicht nur ungeliebt, sondern nicht einmal liebenswert und dabei noch machtlos zugleich; wie Otto Normalverbraucher, wir alle. – Und nun sagt er sich: ”Es hängt am Ende alles doch nur am Geld allein.” Denn der Besitz des Geldes verleiht Fähigkeiten, die nicht abhängen von der eigenen, viel zu kurz gekommenen Individualität.

 

Man kann darüber streiten, ob bei A. eine Substitution von erotischem Verlangen durch Verlangen nach Machtbesitz stattfindet oder eine Verschiebung erotischer Energie auf das Ziel des Machtbesitzes. Entscheidend ist die Tatsache, dass Liebes- und Machtverlangen Ziele sind, die gleichermaßen effektiv zu motivieren vermögen. In der Psychoanalyse könnten also sowohl S. Freud als auch A. Adler sich auf Wagners Dichtung berufen.

 

Die Einbuße an Menschlichkeit beim Erwerb der Macht wirft einen düsteren Schatten auf die nunmehr entstandene Erotik der Macht:

 

Erzwäng ich nicht Liebe,

doch listig erzwäng ich mir Lust. (Alberich, Rheingold, 1)

 

Auch an anderer Stelle deutlich zu Wotan und Loge:

 

”Eure schmucken Frau’n –

die mein Frein verschmäht –

sie zwingt zur Lust sich der Zwerg,

lacht Liebe ihm nicht.” (Alberrich, Rheingold, 3)

 

A.s Absage betraf Liebe und Liebeslust, wie wir dem betörenden Gesang der Rheintochter Wellgunde entnahmen. Es ist interessant zu bemerken, dass diese Absage nicht die Festlegung auf ein völlig lustfremdes, entsagungsvolles Leben beinhaltet, sondern dass durch diese Absage eine andere Form der Lust in unser Blickfeld gerät. Wir geraten sozusagen in eine künstliche Welt, in der die Dinge perfekt und zugleich absolut giftig sind. [O. Wilde schwärmte von solchen Dingen.]

 

Was hier in fast psychoanalytischer Manier angedeutet wird, ist eine Art Abspaltung und Desintegration des erotischen Triebes. Mit Worten der Kirche heißt das: Erotische Lust wird außerhalb personaler und gesellschaftlicher Bindung ”gesucht und bejaht”. Sie gewinnt zum Leidwesen des Betroffenen den Charakter konfliktreicher, unersättlicher Obsessivität.

 

Mit der Verwandlung des Goldes in gesellschaftliche Macht regt sich sogleich die Sorge um Machterhalt und Machtmehrung. Frei nach Horaz: Sorge um Machterhalt folgt der erworbenen Macht und der Hunger nach mehr. Denn nur so lässt sie sich in der allgemeinen Konkurrenz bewahren.

 

Macht ist tragisch, weil sie unter menschlichen Verhältnissen fast zwangsläufig zum Selbstzweck wird. So erscheint uns der Inhaber der Macht als erstes Opfer der Macht; - nicht als ihr Herr sondern als ihr Knecht. – Die unselige Tendenz des bösen Spiels um Machterwerb und Machterhalt zeigt sich an A. auch insofern, weil es ihm trotz allen Liebesverzichts nur kurze Zeit vergönnt sein wird, sich in der erworbenen Machtposition zu halten. Er entbehrt letztlich sowohl der Liebe als auch der Macht und ist am Ende doppelt unglücklich. Sein Part ist finsteres, unerfüllbares Verlangen, in dem er in brütender Sorge verharrt. Letztlich und endgültig könne und müsse er das Spiel trotz allem gewinnen, meint er; - und wenn nicht er, dann sein späterer Sohn, der finstere Hagen. (Ein nicht enden wollendes, unseliges Spiel verweist per Delegation über die Kürze des individuellen Lebens hinaus. Das nimmt gewissermaßen die Einsichten der heutigen Familientherapie vorweg.) – Das Phänomen erinnert mich auch an buddhistische Auffassungen von fixierten Erwartungen und unstillbarem Willensdrang, die eine Hauptquelle unserer selbstgeschaffenen Leiden darstellen.

[In der Götterdämmerung [II,1] erleben wir eine nächtliche Szene, in der A. seinen Sohn Hagen instruiert:

 

”Was hast du meinem Schlaf zu sagen?” fragt Hagen.

 

”Hagen, mein Sohn! Hasse die Frohen!

Mich Lustfreien, Leidbelasteten

Liebst du so, wie du sollst!

...

Ich – und du!

Wir erben die Welt.

Den goldnen Ring, den Reif gilt’s zu erringen!

...

Drum ohne Zögern ziel auf den Reif.” (Götterdämmerung, II, 1)]

 

[Psychologisch gesehen sind die Ausweglosigkeiten und Fixierungen der Kinder die der Eltern. Weil am Anfang in der Generation der allerersten Eltern ein Verbrechen oder ein Frevel [oder ein problematisches Engagement] begangen wurde, wiederholt sich das einmal Verfehlte durch alle Generationen hindurch. [Aus einen Feature am Sonntag, 27.01.2002, SWR2, Aporia - Ausweglosigkeit]

 

Wir finden in der Ring-Dichtung noch andere Beispiele für die Delegation bzw. Weiterreichung ungelöster Probleme in der Generationenfolge. [Dieses Muster ist in den Mythen verschiedener Kulturkreise so weit verbreitet, dass es etwas allgemein Menschliches, etwas Typisches, darzustellen scheint.] Erstens Brünnhilde, zweitens Siegmund.

Brünnhilde kennt das ”innerste Wollen” Wotans wie kein[e] andere[r]. [Walküre 3] Wotan schützt öffentlich, - im Gegensatz zu seinem ”innersten Wollen”, - Konventionen, Institutionen und ‚heuchelnder Sitte hartes Gesetz’, z.B. vertragliche oder institutionelle Bindungen; - auch wenn sie nicht ganz freiwillig eingegangen wurden; - wie z.B. im Fall der Eheschließung von Hunding und Sieglinde. Es ist psychologisch klar, dass die Tochter letztlich dem geheimen und nicht dem öffentlichen Willen des Vaters folgt. Als Wotan erkennt, dass er seinen Schutz von Siegmund abziehen muss, tritt Brünnhilde dennoch für Siegmund und Sieglinde ein, wofür sie, - gemäss dem offiziellen Willen Wotans, schwer bestraft werden muss. Das Dilemma des Vaters führt die Tochter also in ein Unglück, in eine Katastrophe. Sie wird als Walküre verstoßen, auf einem Berg eingeschläfert und von einem Feuerwall eingeschlossen. An ein ‚normales’ Leben ist unter diesen Umständen nicht leicht zu denken. So etwas manifestiert sich im normalen Alltag als endogene Psychose o. dgl..

Im Falle Siegmunds erlaube ich mir den Hinweis, dass ihm nicht nur ein Schwert, sondern vor allem ‚höchste Not’ verhießen wurde. Er ist der eigentliche Kämpfer gegen ‚heuchelnder Sitte hartes Gesetz’, bzw. gegen ”trüber Verträge trügende Bande” [Walküre, 2, 2]. ”In wildem Leiden erwuchs er sich selbst”, heißt es von ihm [Walküre, 2, 1]. Wotan lässt ihn unter dem Druck Frickas fallen und setzt die Walküre als Todesbotin auf ihn an. - Fricka, Wotans Gattin, ist die zu Hausgezänk neigende Hüterin der gesellschaftlichen Institution der Ehe. Mit ihren Vorhaltungen setzt sie dem Patriarchen Wotan mächtig zu. - Das Elend Siegmunds und Sieglindes [”freiester Liebe furchtbarstes Leid, traurigsten Mutes mächtigster Trotz” (Walküre, 3, 3)] erwächst also ebenfalls aus der geheimen Seite von Wotans Wollen.

 

Erda, der Welt weisestes Weib, erfasst die familiäre Situation der Wotansfamilie, die zuglcich die politische Situation der Wotans-Herrschaft darstellt, in folgenden Worten:

 

”Wirr wird mir, seit ich erwacht:

wild und kraus kreist die Welt!

Die Walküre, der Wala Kind,

büßt in Banden des Schlafs,

als die wissende Mutter schlief?

Der den Trotz lehrte, straft den Trotz?

Der die Tat entzündet, zürnt um die Tat?

Der die Rechte wahrt, der die Eide hütet,

wehret dem Recht, herrscht durch Meineid? [Erda, Siegfried, 3, 1]

 

Zweiter Handlungsstrang

 

Die Götter in Wagners Ringdichtung sind die [patriarchalisch orientierten] Politiker der damaligen Urzeit, als die Weltbevölkerung aus mythologischen Urwesen bestand: Zwergen, Riesen, Rheintöchtern, Walküren, Nornen und eben diesen Göttern selbst. Sie besitzen politische Macht, die sie schlecht und recht nutzen, das soziale Leben ihrer selbst und aller andern durch die Erfindung und Ausgestaltung von Regelungen, Vorschriften und ”Rahmenbedingungen” zu ordnen. Allerdings fällt ihnen die Konsequenz in den eigenen Anordnungen oft sehr schwer, vielleicht so wie heute gestressten Eltern ihren Sprösslingen gegenüber, wobei die Sprösslinge in gewisser Weise ihre Eltern fast mehr unter Erziehungszwang setzen als umgekehrt. Die Fülle ihrer Anordnungen gerät den Anordnenden angesichts unüberschaubarer Umstände und auch angesichts oft allzu umfangreicher Vorhaben gelegentlich außer Kontrolle, indem sie u.U. Regelungen beachten müssen, bei denen sie von Fall zu Fall in besonderer Angelegenheit gern einmal eine Ausnahme machen würden. Da ihr Ansehen und ihre Autorität aber an der Einhaltung einmal getroffener Regelungen hängt, können sie sich selbst nicht einfach über die von ihnen selbst autorisierten Regeln hinwegsetzen und leiden sozusagen an ihren eigenen Werken und Erfindungen.

Im Gegensatz zu den Niblungen sind diese Politiker keineswegs auf Selbsterhaltung und bescheidene Daseinsfristung beschränkt, sondern sie verspüren die Bedürfnisse der gehobenen Lebensführung und verfeinerten Kultur, - so trinken sie z.B. Wein und nähren sich von besonderen Speisen. Manche von ihnen, z.B. Wotan selbst in besonderem Maß, besitzen darüber hinaus auch Interesse für Kunst und Wissenschaft.

 

Vor allem aber war Wotans Leben reich an erotischen Verwicklungen und persönlichen Intrigen. Diese Dinge kosteten ihn höchst wahrscheinlich die meiste Kraft seiner Jugend und seines vorehelichen Mannestums. Seine Leidenschaft war einst Erda, die Urmutter der Welt und ”der Welt weisestes Weib”, mit der zusammen er in uranfänglicher Zeit in nicht legalisiertem Liebesbund eine ganze Menge [meist] weiblicher Kinder zeugte, die Nornen z.B., Schicksalsfaden-spinnende Nacht-Göttinnen, die in fortgeschrittenem Alter ein wenig zum Klatsch neigen werden (Vorspiel Götterdämmerung); - aber auch die Walküren, dem Pferdesport und streitbarem Wettkampf zugetane, dabei auch schöne [und erotische] junge Damen, die für hohe Ideale kämpfen. [Auch die unglücklichen Geschwister Siegmund und Sieglinde, die mit ihrem verzweifelten Heldenmut in der Not des Lebens nicht bestehen können, sind Sprösslinge von Wotans Eskapaden.]

Wir wissen also von drei Nornen, acht Walküren sowie von Siegmund und Sieglinde: sie alle sind Früchte der wilden, gesetzlosen Liebe Wotans. Ob Wotan auch Kinder mit seiner Ehefrau Fricka hatte, entzieht sich meiner Kenntnis. Trotz feierlichem und erhabenen Gestus und seriösem Auftreten bevorzugt Wotan insgeheim den freien, uninstitutionalisierten Liebesbund. Er huldigt einem Motto, das einmal für den Schlussmonolog der Brünnhilde in der Götterdämmerung vorgesehen war:

 

”Nicht Gut, nicht Gold, noch göttliche Pracht;

nicht Haus, nicht Hof, noch herrischer Prunk;

nicht trüber Verträge trügender Bund,

noch heuchelnder Sitte hartes Gesetz;

selig in Lust und Leid

lässt – die Liebe nur sein!”

 

Diese Passage stellt sozusagen die an Ludwig Feuerbach orientierte Variante der vielfältigen Wagnerschen Erlösungskonzeptionen dar. In der endgültigen Fassung der Götterdämmerung erscheint sie nicht: Nachdem Wagner Schopenhauers Schriften studiert hatte, neigte er sich mehr der Nirwana-Romantik zu. Nur eine scharfe Form von Welt- und Lebensverneiung wird dem heillosen Desaster des menschlich-unmenschlichen Daseins wirklich gerecht. - Man sieht, dass eine gewisse Form von dunkler Romantik von ganz erheblichem Problembewusstsein zeugt. [In der Siegfried- Gestalt experimentierte Wagner zunächst mit noch einer anderen Erlösungskonzeption, die im Zuge seines Reifungsprozesses später verworfen wurde. Es handelt sich um den an M. Bakunin orientierten Gedanken anarchistischer Selbstbefreiung. Danach beginnt  Selbst-Sein und  emanzipatorisches Streben mit der Zurückweisung konventionell überkommener Verhaltens(maß)regelungen. Siegfried, ein Sprössling mehrfach verbotener Liebe [Ehebruch und Inzest in Koinzidenz], bricht auch in eigener Person die üblichen konventionellen ‚Sittengesetze’, steht außerhalb jeder Hierarchie, begegnet Autoritäten ausgesprochen respektlos, exzelliert als Schmied des Schwertes Nothung, [das wider die Regeln der Kunst geschmiedet wird und gerade deshalb so gut wird,] tötet seinen Lehrmeister Mime obendrein, [der ihm allerdings selbst nach dem Leben trachtet,] beseitigt den Lindwurm, durchschreitet unversehrt einen gewaltigen Feuerbrand; - und glänzt als Held der freien Liebe [im Duett mit Brünnhilde, die eigentlich seine Tante ist]. Bei gewöhnlichen Zeitgenossen muss das Anstoß erregen, und so wird Siegfried letztlich das Opfer einer Intrige; - an einer Quelle im Odenwald “erlag er dem meuchelnden Dolchstoß”.

 

In der alt-isländischen Edda hat Odin zusammen mit der Götterkönigin Frigga auch legitimen Nachwuchs: u. a. Thor, der Gott des Donners. Wagner lässt in ‚Rheingold’ einen Gott namens Donner auftreten, kennzeichnet ihn aber nicht als Sohn Wotans. Man erkennt Donner an dem großen Hammer, den dieser Gott mit sich führt. Wagner hat ihm eine großartige Gewittermusik zugeordnet. Kurt Pahlen beschreibt diese Musik so: ”In den vielfach geteilten, wogenden Streichern entwickelt sich das Klangbild der aufgezogenen Gewitterwolken, der drückenden Schwüle, die über der Landschaft liegt. Donner ergreift seinen Hammer, steigt auf einen Felsenhügel, von dem aus er dem dunkel gewordenen Himmel gegenübersteht. ... das Donnermotiv beherrscht das weitgeschwungene Orchester-Crescendo. Immer wieder klingt es – von den Hörnern, später vom gesamten Blech tosend geblasen – durch die sich mehr und mehr steigernden Streicherbewegungen. Auf dem Höhepunkt saust Donners Hammer auf die Felsen, aus denen Funken zu sprühen scheinen. Rasender Wirbel zweier tiefer Pauken verhallt, von Celli und Kontrabässen umrahmt, wie Donner in der Ferne.” [Musikalische Erläuterungen zu Rheingold, 4. Szene]

 

Wotan, der Chef der mächtigsten Politikerfamilie, hatte schon lange vor A.s Liebesverzicht die politische Macht in der damaligen Welt. Aber bereits mit der Macht Wotans muss irgendwie ein Problem verbunden gewesen sein. So wie es gehen kann: die andern glauben nicht recht daran, wenn sie nicht hin und wieder an die bestehenden Machtverhältnisse erinnert werden. Deshalb muss politische Macht repräsentieren. Sie beruht auf dem Ansehen, das sie in der Bevölkerung genießt. Also ließ Wotan einen großartigen Palast erbauen, ohne im Besitz der erforderlichen Mittel dazu zu sein. Bezüglich der Prachtbauten von Walhall gab es also schon ganz am Anfang ein Finanzierungsproblem.

 

Die Riesen Fasolt und Fafner, ebenfalls mythologische Urwesen, sind von der Natur durch die Ausstattung mit übermäßigen Muskelkräften verwöhnt worden. Das prädestiniert sie zu gewaltigen Bauarbeiten, die sie nach Wotans Entwürfen ausführen.

Im Gegensatz zu den goldschürfenden Niblungen und im Gegensatz zu den felstürmenden Riesen muss man Wotan und seinen Helfern aus den vornehmen Familien durchaus die Fähigkeit zu großartigen Plänen und Entwürfen zugestehen. Nur die Ausführung des Projektes selbst und seine solide Finanzierung war Wotans Sache nicht.

 

Im Grunde genommen ließ Wotan die Bauarbeiter Fasolt und Fafner im Unklaren darüber, wie er seine Schulden bei erreichtem Fälligkeitstermin zu bezahlen gedachte. Er bewegte sie dennoch zum Vertragsabschluß, indem er Freia, die Göttin der Liebe und goldenen Äpfel, zum Pfand aussetzte. Die beiden waren für den Liebreiz Freias empfänglich und erfreuten sich an dem Gedanken, dass das Pfand zu gegebener Zeit verfallen und in ihren Besitz gelangen werde. Die motivierende Kraft erotischen Reizes war Wotan durchaus bekannt.

 

Freia ist die Schwester von Wotans Frau Fricka. Insofern kann man sagen, dass Wotan seine Schwägerin durch den Vertrag  mit Fasolt und Fafner prostituierte. Jedenfalls war die Sache nach heutigem Verständnis sittenwidrig.

 

Fricka wirft ihm den anstößigen Vertrag vor:

 

Was ist euch Harten

Doch heilig und wert,

giert ihr Männer nach Macht! (Rheingold, 2)

 

Die Sache mit Freia hat neben der Sittenwidrigkeit noch einen anderen Haken. Freia ist die unersetzliche Gärtnerin gewisser goldener Äpfel. Ohne den täglichen Genuss dieser besonderen Früchte sind die Götter nur kure Zeit lebensfähig, geschweige denn, dass sie sich ohne sie ewige Jugend erhalten könnten. Wotan hat also die Grundversorgung der Götter auf’s Spiel gesetzt.

 

”Der Frucht Genuß frommt ihren Sippen

zu ewig nie alternder Jugend;

siech und bleich doch sinkt ihre Blüte,

alt und schwach schwinden sie hin,

müssen Freia sie missen.” (Fafner, Rheingold 2)

 

Ohne die Äpfel alt und grau,

greis und grämlich, welkend zum Spott aller Welt,

erstirbt der Götter Stamm. (Loge, Rheingold 2)

 

Wotan denkt allerdings, der listige Gott Loge, ein raffinierter Politikberater, werde zu gegebener Zeit schon noch eine Lösung für das Problem finden, so dass man Freia nicht den Riesen überlassen müsse. ”Tölpeln, denen ihr Reiz ohnehin nichts taugt”, wie er meint.

 

Fasolt, der gefühlvollere der beiden Riesen, ist da allerdings ganz anderer Meinung:

 

”Wir Plumpen plagen uns schwitzend mit schwieliger Hand,

ein Weib zu gewinnen, das wonnig und mild

bei uns Armen wohne.” (Rheingold, 2)

 

Als der Zahltag herangekommen ist, erscheint Loge erst einmal nicht zum ersehnten Beratungsgespräch, um Wotan aus der Zwangslage herauszuhelfen. Letztlich bequemt er sich aber doch herbei und erklärt scheinbar ganz kontraproduktiv (zu den Interessen seiner Auftraggeber), dass er auf seinen Streifzügen durch die Welt nichts entdeckt habe, was den Männern als Ersatz für ”Weibes, Wonne und Wert” dienen könnte.

 

”Umsonst sucht ich und sehe nun wohl,

in der Welten Ring nichts so reich,

als Ersatz zu muten dem Mann für Weibes Wonne und Wert.” (Rheingold, 2)

 

Wotan wird natürlich böse, als er das in seinem Dilemma hören muss. Aber der Berater erklärt kaltblütig, dass er lediglich versprochen habe, über eine Abhilfe bezüglich der Notlage nachzudenken. Nicht aber habe er versprechen wollen und können, einen Ausweg auch dort zu finden, wo es einfach keinen gäbe.

 

Mit höchster Sorge drauf zu sinnen

wie es zu lösen, das – hab ich gelobt.

Doch dass ich fände, was nie sich fügt,

was nie gelingt, wie ließ sich das wohl geloben? (Rheingold, 2)

 

Aber Loge, der wandlungsfähige Gott des züngelnden Feuers, ist noch viel wandlungsfähiger und raffinierter, als man zunächst denkt. Er erzählt, scheinbar beiläufig, dass er doch einen Mann gefunden habe, der zu dem unglaublichen Verzicht bereit gewesen sei:

 

Nur einen sah ich, der sagte der Liebe ab:

Um rotes Gold entriet er des Weibes Gunst.

Des Rheines klare Kinder klagten mir ihre Not:

Der Niblung, Nacht-Alberich,

buhlte vergebens um der Badenden Gunst;

das Rheingold da raubte sich rächend der Dieb;

das dünkt ihm nun das teuerste Gut,

hehrer als Weibes Huld. (Loge, Rheingold, 2)

 

Die andern werden neugierig und fragen:

 

Was Großes gilt denn das Gold, dass dem Niblung es genügt? (Fafner, Rheingold, 2)

 

Auch die Antwort muss zitiert werden:

 

Ein Tand ist’s in des Wassers Tiefe,

lachenden Kindern zur Lust:

doch ward es zum runden Reife geschmiedet,

hilft es zur höchsten Macht, gewinnt dem Manne die Welt.” (Loge, Rheingold, 2)

 

Das interessiert alle, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. – Entstehung von Macht in der Umgebung beginnt unmittelbar, alle Betroffenen das Fürchten zu lehren. - Die Riesen Fasolt und Fafner sehen ihre Freiheit durch die neu entstehende Weltmacht bedroht:

 

Neue Neidtat  sinnt uns der Niblung,

gibt das Gold ihm Macht. (Fafner, Rheingold 2)

 

Wotan sieht die bisherige Macht der vornehmen Götterfamilie bedroht:

 

Des Reifes zu walten, rätlich will es mich dünken. (Wotan, Rheingold 2)

 

Und Fricka erkundigt sich leise, ob man aus dem Golde auch kostbaren Schmuck für die Frauen herstellen könnte.

 

”Des Gatten Treu ertrotze die Frau, trüge sie hold den hellen Schmuck, den schimmernd Zwerge schmieden, rührig im Zwange des Reifs.” (Loge, Rheingold,2)

 

Sogleich wendet sich Fricka mit schmeichelnder Bitte an Wotan, den Goldschatz zu beschaffen.

 

[Auch Goethe hat sich im Faust zur Frage des Goldschmucks geäußert:

 

Man sieht doch gleich ganz anders drein.

Was hilft euch Schönheit, junges Blut?

...

Nach Golde drängt,

Am Golde hängt

Doch alles. Ach wir Armen. (Goethe, Faust I)]

 

Nun vollzieht sich der Gesinnungs- und Wertewandel auch bei den Riesen:

 

Glaub mir, mehr als Freia frommt das gleißende Gold:

Auch ew’ge Jugend erjagt, wer durch Goldes Zauber sie zwingt. (Fafner, Rheingold 2)

 

Freia, die Göttin der Liebe und des ‚jüngenden Obstes’ erscheint nunmehr auch den Riesen, unseren mythologischen Bauarbeitern, als verzichtbar bzw. nicht so wichtig: sie erklären sich dazu bereit, des Niblungen rotes Gold’ als Ersatz zu akzeptieren. Für Wotan stellt sich damit ein Problem: das Gold, das ihm nicht gehört, als Lösegeld zu beschaffen. Wem gehört es denn eigentlich, das Rheingold? – Die Rheintöchter sollten es im Auftrag ihres Vaters bewachen und klagen um seinen Verlust. Alberich, der finstere Feind der Liebe, hat es ihnen geraubt, um daraus mit großer Kunstfertigkeit Werkstücke von besonderer Bewandtnis schaffen zu lassen: den Ring selbst, einen Tarnhelm und eine Geißel. Darüber zu gegebener Zeit!

 

Loge ist Politikberater mit zynischer Tendenz.. Wenn die Sache verzweifelt steht, rät er zu List und Gewalt, obwohl er erkennt, dass das auf Dauer nichts nützt. Er rät, den neureichen Emporkömmling Alberich seines gerade erworbenen Reichtums zu berauben, um Fasolt und Fafner damit abzufinden und dazu zu bewegen, Freia als Pfand wieder frei zu geben:

 

Was ein Dieb stahl, das stielst du dem Dieb:

Ward leichter ein Eigen erlangt? (Loge, Rheingold 2)

 

 

Fortsetzung erster Handlungsstrang

 

Alberich hat sich inzwischen zu einem knochenharten Industriechef entwickelt und betreibt mit einem Heer von schlecht entlohnten Mitarbeitern (den Nibelungen) ein Bergwerk (Untertagewerksbetrieb) namens Nibelheim. Mime, ein Mitarbeiter, berichtet:

 

”Mit arger List schuf sich Alberich

aus Rheines Gold einen gelben Reif:

seinem starken Zauber zittern wir staunend;

mit ihm zwingt er uns alle, der Niblungen nächt’ges Heer.

...

ohne Ruh und Rast dem Herrn zu häufen den Hort.”

 

Mime, der kunstreiche Schmied [Spezialist für das Schmieden von Schwert und Helm] fertigt den Zauberhelm [Tarnhelm] nicht zu eigenem Nutzen, sondern zum Nutzen seines Herrn. In der Hand des Herrn [der ursprünglich ‚nur’ der Bruder war] wird das Werkstück ein Werkzeug zur Beherrschung dessen, der es gefertigt hatte. Was A. also produzieren ließ, sind letztlich die Werkzeuge der unentrinnbaren, anonymen Allgegenwart eines gesellschaftlichen Zwangs zu saurer Arbeit und entbehrungsreichem Leben. Dass es bei dem Tarnhelm, einem Werkzeug der Verwandlung und Verbergung, tatsächlich [und nicht nur in einer Deutung, die das Gras wachsen hört] um die Perfektion von Macht- und Kontrollmechanismen geht, sehen wir an folgender Stelle:

 

Hab Dank, du Dummer! Dein Werk bewährt sich gut.

Hoho! Hoho! Niblungen all,

neigt euch nun Alberich!

Überall weilt er nun, euch zu bewachen;

Ruh und Rast ist euch zerronnen;

Ihm müsst ihr schaffen, wo nicht ihr ihn schaut;

Wo nicht ihr ihn gewahrt, seid seiner gewärtig;

Untertan seid ihr ihm immer! (Alberich, Rheingold 3)

 

Erfindern und Ingenieuren kommen ihre Erfindungen oft am allerwenigsten selbst zugute. Dieses Phänomen wird uns an der Figur Mimes vorgeführt. Wissenschaft, Kunst und Erfindungsreichtum gehen fast zwangsläufig auch nach dem Geld. Sie können der Dienstbarkeit innerhalb bestehender Machtstrukturen kaum entrinnen und werden in die Pflicht zur Erzeugung von Herrschaftswerkzeugen [bzw. zumindest von sonstigen Verwertbarkeiten] genommen. [Wer nun ein Geldverschwender ist, wie Wagner einer war, dem mag die Tatsache dieser Abhängigkeit als besonders schmerzlich bewusst werden.]

 

Alberich. begnügt sich nicht damit, das Rheingold zu besitzen, er lässt es vielmehr zu kunstvollen Kleinodien verarbeiten. – Später einmal [in ‚Siegfried’] wird ein meist schlafender Drache ausschließlich damit beschäftigt sein, den Hort lediglich zu besitzen. Der schlaue A. jedoch zieht es vor, das Gold (und die Nibelungen, seine Arbeiter) für sich arbeiten zu lassen. Damit wird folgende Unterscheidung getroffen: es geht um den wichtigen Unterschied von totem Besitztum und Kapital, sich selbst vermehrendem Wert.

Der interessanteste Teil des Nibelungenhorts ist ohne Zweifel der Ring, ein Wertgegenstand, der wie ein Lebewesen die Eigenschaft der Selbstvermehrung besitzt.

 

Der Vergleich des Ringes mit einem sich selbst vermehrenden Lebewesen führt uns zu folgender Bemerkung: Die Absicht eines Lebewesens, sich zu vermehren, erfordert normaler Weise die Zuwendung zu einem gegengeschlechtlichen Wesen der gleichen Art. Die Absicht aber, den sich selbst vermehrenden Ring zu schmieden, erfordert das genaue Gegenteil, nämlich die Abwendung von andern Wesen der gleichen Art. Wagners romantischer Grundgedanke, Liebesverzicht und Abwendung von mitmenschlichen Belangen in die Entstehungspsychologie moderner Geldmacht aufzunehmen, erweist sich in diesem Fall als ein Hauptpunkt, den alten Nibelungenmythos mit zeitgeschichtlichen Bezügen aufzuladen. Das Motiv wird mehrmals wiederholt: Freia, die Göttin der Liebe, Jugend, Lebenslust wird von Wotan verkauft, um ein repräsentatives Bauwerk zu errichten. An späterer Stelle wird der Anblick von Freias Gestalt durch die lückenlose Anhäufung des Goldschatzes verdeckt, um Fasolt den Verzicht auf Freia abzuringen. Allein der Ring vermag die letzte Lücke zu schließen. Eine lückenlos errichtete Mauer aus Geld und Macht löst uns ab von dem Blick auf die ‚ursprünglichen‘ Werte der Mitmenschlichkeit. Dieser Gedanke ist eine Grundfigur der Sozialkritik des 19. Jahrhunderts. Er gilt gleichermaßen für Sozialisten, Anarchisten, romantische Utopisten und rückwärts gewandte Konservative.

Auch Wotan und die Walküre Brünnhilde erkennen diesen Geburtsfehler der modernen (Geld-)Macht und suchen nach einem Ausweg. Alberich hat den Zusammenhang ebenfalls erkannt., akzeptiert allerdings im Gegensatz zu Wotan die Regeln des bösen Spiels, identifiziert sich mit der Sache und erringt tatsächlich für kurze Zeit Herrschaft und Macht. In Adornos Worten zu sprechen: Alberich entschließt sich dazu, ”die Utopie zu liquidieren, anstatt sich um ihre Verwirklichung zu bemühen”.

 

Wagners mythologische Geschichte von der Entstehung des Rings – der Entstehung eines (geld-) machtgenerierenden Mechanismus durch Verzicht auf Liebe und Mitmenschlichkeit – entspricht dem tatsächlichen Phänomen, dass die Orientierung auf wirtschaftliche Effektivität der Warenproduktion mitmenschliche Belange sehr oft in den Hintergrund treten lässt.

 

Nur ein Wesen, das zur weitgehenden Mittelbarkeit seiner Bedürfnisbefriedigung befähigt ist, kann durch harte Arbeit und Konsumverzicht Produktionsmittel und Fähigkeiten zu entferntem Nutzen aufbauen. Insofern geht es gar nicht nur um Liebe, Mitmenschlichkeit, von der sich der in die Zukunft investierende Mensch entfernt, sondern er entfernt sich im Grunde genommen von der Unmittelbarkeit der Stimmungen, Affekte und mehr ursprünglichen Bedürfnisse ganz allgemein und setzt eine gesellschaftliche Überformung seiner ursprünglichen Bedürfnisstruktur in Gang.

Ursprüngliche Bedürfnisse kann man diejenigen nennen, die den hirnarchäologisch älteren Hirnstrukturen [z.B. dem limbischen System] entsprechen. Elementare Bedürfnisse, - ihre Erfüllung, Frustration oder ihre bloße Präsenz in der Handlungsmotivation, treten in besonderem Maße stimmungsgefärbt und affektbetont auf. Insofern tritt in der modernen Gesellschaft die Situation auf, dass der Mensch zum Teil in weiter Entfernung von denjenigen Antrieben handeln muss, die ihn stimmungsmäßig und affektiv am meisten tangieren.

Zu den archaischen Bedürfnissen rechne ich nicht nur den Sex und die Liebe, sondern auch das Bedürfnis nach Anerkennung in der Gruppe, das Denken in Freund-Feid-Schemata, den Drang, mit den Wölfen zu heulen und das Bedürfnis nach Stimmungsmache selbst. Diese Dinge entsprechen der nahkampforientierten Lebensweise unserer steinzeitlichen Vorfahren, die in kleinen überschaubaren Gruppen von 40 bis 50 Personen die afrikanische Savanne durchstreiften und einer feindlichen Umwelt trotzten.

 

Wie wird man reich in diesen modernen Zeiten? Die korrekte Antwort auf eine solche weitausgreifende Frage lautet natürlich: ”Das kommt ganz darauf an.” Aber folgendes Szenario, das durch die Ring-Geschichte illustriert wird, erscheint mir tatsächlich denkbar:

Es muss einem Menschen gelingen, durch Konsumverzicht und harte Arbeit Mittel anzuhäufen und Fähigkeiten aufzubauen, derart, dass sie ihn zur Produktion von verkäuflichen Gütern instand setzen, die er etwas preiswerter als die Konkurrenz anzubieten und auf einem Warenmarkt wieder in Geld umzuschlagen vermag. Wenn für diese Güter eine wirklich kaufkräftige Nachfrage besteht, setzt ihn der Umschlag von Waren in Geld, von Geld in neue Produktionsgüter und neue Waren in der Tat in die Lage, Reichtum anzuhäufen. Aber er darf die Früchte seiner Arbeit nicht [in unmäßiger Weise] zum Lebensgenuss [konsumtiv] verbrauchen, sondern er muss einen guten Teil der neu erworbenen Mittel in neue Produktionsgüter re-investieren, um im unbarmherzigen Konkurrenzkampf  weiterhin zu bestehen.

Das ist in der Tat die Geschichte der Entstehung und Bewahrung von modernem gesellschaftlichen Reichtum, der sich zu einem gesellschaftlichen Zwang entwickelt und selbstverständlich auch zur Macht wird. Es ist im Groben der Mechanismus des sich selbst vermehrenden Werts, wofür der Ring des Alberich steht. Das Geld arbeitet, wie man sagt, oder die Investition muss sich rentieren. Und das tut sie, indem es gelingt, den beständigen Umschlags- und Verwertungsprozess aufrecht zu erhalten. Wobei Wagner in seiner Darstellung des Niblungen- Bergwerks nicht vergisst, dass das Geld insofern arbeitet, als Arbeitskräfte in der Warenproduktion tätig sind. Dies allererst erhält den Mechanismus des Mehrwert heckenden Werts [Marx] am Leben. Der Tausch von Geld zu Geld, rein in der Zirkulation, reicht dafür nicht aus.

Unproduktive Lebensfreuden, die dem Verwertungsmechanismus Substanz entziehen, müssen natürlich zurück stehen, um vor allem den Markt der Verwertbarkeiten effektiv bedienen zu können. Für diesen Gesichtspunkt [“Primat der Verwertbarkeit”] hat Wagner verschiedene Darstellungsmittel gefunden: der Liebesfluch selbst, der Verkauf Freias,  der Aufbau des Goldes, um Freias Anblick zu verdecken usw..

An unserer Stellung im System der Verwertungszusammenhänge und Rentabilitäten hängt die wirtschaftliche Existenz der einzelnen Menschen und Dinge in den Zeiten allgemeiner Geldwirtschaft. Auch für die Ausübung und Erhaltung der hohen Kunst des Musiktheaters müssen Konzepte der wirtschaftlichen Existenz (oder Subventionen) gefunden werden, was nicht nur Wagner, sondern z. B. auch sein wirtschaftlich so viel erfolgreicherer Konkurrent Verdi zeitweise schmerzlich empfand.

 

Uranfänglich war das Rheingold als geeigneter Rohstoff der Ringfertigung bestimmt, vorausgesetzt, dass sich jemand fand, den Liebesverzicht zu leisten. Alberich, nach seinem Desaster mit den Rheintöchtern, war bereit dazu, und es gelang ihm dann auch, den Ring zu schmieden.

 

Neben dem Ring sind Tarnhelm und Geißel die wichtigsten Gegen­stände, die A. aus dem Rheingold herstellt bzw. herstellen lässt. Tarnhelm und Geißel symbolisieren zusammen Allgegenwart, Unentrinnbarkeit und Anonymität der Machtausübung in A.s Zwangssystem. Dabei steht der Tarnhelm für Anonymität und Wandlungsfähigkeit, die Geißel für Unterdrückung; - Tarnhelm und Geißel zusammen ergeben die rätselhafte Undurchschaubarkeit des Zwangsmechanismus. Es handelt sich bei A.s Zwangssystem vermutlich um ein System der bezahlten Lohnarbeit, bei dem niemand direkt zur Arbeit gezwungen werden muss. Für die Untergebenen ist nicht sichtbar, wie das System funktioniert und wieso sie ihm nicht entrinnen können. Es wird kein offener Zwang ausgeübt, sondern es herrscht die Freiheit der wechselseitig akzeptierten Arbeitsverträge. Hieraus leitet sich Marx‘ Verachtung für die ‚bloß formellen‘ Freiheitsrechte ab.

 

Zusammenführung der Handlungsstränge

 

Wotan und Loge besuchen Alberich in seinem Industrieunternehmen und spionieren nach dem Geheimnis seiner neu erworbenen Macht.

 

Aus dem Märchen vom gestiefelten Kater wissen wir, wie man einen Menschen, der über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt, also einen Zauberer, überlisten kann. Auch ein Zauberer bleibt ein Mensch mit all seinen Schwächen. Er unterliegt den Bedürfnissen der Eitelkeit, er möchte seine Kunst anerkannt und gewürdigt sehen, er strebt nach der köstlichen Genugtuung, seine Zauberei zur Geltung und gesellschaftlichen Anerkennung zu bringen. Loge und Wotan nutzen dieses unglückselige Bedürfnis, um Alberich zu seinem eigenen Schaden zu manipulieren. Zuerst fordern sie ihn auf, sich in eine Riesenschlange zu verwandelt, wenn dies nicht zu schwierig für ihn sei. ”Kein Thema!” sagt Alberich und verwandelt sich in einen furchterregenden Drachen. Die beiden Zuschauer tun so, als ob sie vor Angst erzitterten. Sich in etwas ganz Kleines, eine Kröte beispielsweise, zu verwandeln, das allerdings sei wohl nicht so leicht möglich, meinen die beiden Verführer in einem nächsten Schritt. Als ihm auch dies gelingt, überwältigen sie ihn sofort und legen ihn in Fesseln

Nachdem sie ihn seiner Freiheit beraubt haben, pressen sie ihm in unbarmherziger Weise seine wichtigsten Besitztümer ab; - Hort, Tarnhelm, Geißel und den Ring.

Als A. in ohnmächtiger Wut schäumt und Rache schwört, belehrt ihn Loge über das wirkliche Verhältnis von Freiheit, Macht und Vergeltung:

 

”Dem gebundnen Manne büßt kein Freier den Frevel.” (Rheingold, 3)

 

Alberich, ganz der Logik des Spiels um die Macht verfallen, würde lieber sein Leben als die Macht abzutreten. Da es aber nicht möglich ist, sich die Macht zu erhalten, ohne im Besitz des Lebens zu sein, muss er sich der Zwangslage beugen, in die er geraten ist.

 

Wotan antwortet mit gelungenem Zynismus:

 

”Den Reif verlang ich:

mit dem Leben mach, was du willst!” (Rheingold, 4)

 

Alberich beugt sich der Gewalt und belegt den ohnehin schon fluchbeladenen Ring mit einem weiteren Fluch:

 

”Wie durch Fluch er mir geriet, verflucht sei dieser Ring!

Gab sein Gold mir Macht ohne Maß,

nun zeug’ sein Zauber Tod dem, der ihn trägt!

Kein Froher soll seiner sich freun;

Keinem Glücklichen lache sein lichter Glanz!

Wer ihn besitzt, den sehre die Sorge,

und wer ihn nicht hat, den nage der Neid!

Jeder giere nach seinem Gut,

doch keiner genieße mit Nutzen sein.

...

Dem Tode verfallen fessle den Feigen die Furcht;

Solang er lebt, sterb er lechzend dahin,

des Ringes Herr als des Ringes Knecht:

bis in meiner Hand den geraubten wieder ich halte.”

 

So also denkt sich Wagner die Misère der modernen industriellen Gesellschaft: ein schwer durchschaubarer, unwiderstehlicher Zwang [Fluch] treibt uns an zu ebenso hartnäckigen wie vergeblichen Versuchen, den Besitz von (gesellschaftlicher) Macht und Reichtum zu erlangen, was selbst im günstigsten Fall große Opfer fordert und nur für kurze Zeit möglich ist. Das Ziel ist chimärisch, das Unglück allerdings, das wir in diesem Streben erzeugen, höchst real. Die [verblendete] Wertschätzung von (gesellschaftlicher) Macht und Besitz des Reichtums hegt der Neid sozusagen zu seiner eigenen Strafe. Besitzer von Macht und Reichtum sein zu wollen, das läuft darauf hinaus, Knecht des Besitzes zu werden.

 

In der nächsten Szene finden sich Fasolt und Fafner mit der gefesselten Freia im Schlepptau am Treffpunkt ein, um Qualität und Menge des Lösegeldes, das beschafft werden konnte, zu taxieren. Es gelang also Loge tatsächlich, das Interesse der beiden Gläubiger zu erwecken. Wieder erweist sich, dass das Ziel des Machtbesitzes ebenso sehr [und vielleicht mehr] zu motivieren vermag wie der Anblick der liebreizenden Göttin. [Traurig ergeht es allerdings allen, die sie nicht sehen können, wie wir bei ihrer Begrüßung durch Froh erfahren.] Fasolt ist der sensiblere und weniger hartgesottene der beiden Bauarbeiter, und es ist nicht möglich, ihm den Verzicht auf die schöne Freia abzuringen, solange er noch den geringsten Schimmer von ihr sieht. Der Anblick der Frau muss ihm durch eine riesige Anhäufung von Gold verdeckt und entzogen werden. Wotan befielt:

 

”So stellt das Maß nach Freias Gestalt.” (Rheingold, 4)

 

Es bleibt eine kleine Lücke in der Anhäufung, die nur durch Zugaben geschlossen werden kann. Als erste Zugabe muss der Tarnhelm herhalten, den Wotan gern für sich selbst behalten hätte. Die allerletzte winzige Lücke aber kann nur durch den Ring selbst geschlossen werden. Wotan wehrt sich:

 

”Fordert frech, was ihr wollt:

alles gewähr ich, um alle Welt

doch nicht fahren lass ich den Ring!” (Rheingold, 4)

 

Und:

 

”Lasst mich in Ruh! Den Reif geb ich nicht.”

 

Nun ereignet sich eine Szene von höchster Eindringlichkeit. Erda, der Welt weisestes Weib, die Mutter der Nornen, steigt aus der Tiefe der Szene empor [”aus nächtigem Grund”] und singt in einer getragenen Weise erhabene Gesangslinien:

 

”Weiche, Wotan, weiche! Flieh’ des Ringes Fluch!

Rettungslos dunklem Verderben weiht dich sein Gewinn.”

 

Nach einer kurzen Zwischenfrage Wotans [”wer bist du, mahnendes Weib?] fährt sie fort:

 

”Wie alles war, weiß ich; wie alles wird,

wie alles sein wird, seh’ ich auch:

der ew’gen Welt Ur-Wala,

Erda mahnt deinen Mut.

Drei der Töchter, ur-erschaffne, gebar mein Schoß:

Was ich sehe, sagen dir nächtlich die Nornen.

Doch höchste Gefahr führt mich heut

Selbst zu dir her:

...

Alles, was ist, endet.

Ein düstrer Tag dämmert den Göttern:

Dir rat ich, meide den Ring!”

...

Ich warnte dich – du weißt genug:

Sinn in Sorg und Furcht.”

 

Erda also, die ”weiß, was die Tiefe birgt” [Siegfried, 3, 1], durchschaut die unglückselige Entwicklung von Anfang an und rät zu Machtverzicht.

 

Erscheinung und Äußerungsform der Ur-Mutter, also ihr Gesang, sind derart eindrucksvoll, dass Wotans Sinn sich wandelt. Der Gesang ist aus eigentlich einfachen Ausdrucksmitteln gestaltet: aus Tönen des Cis-Mollakkords, fallend nach Fis-Moll [Subdominante], wechselnd nach Gis-Dur [Dominante], gewürzt mit Tritonus an einigen markanten Stellen [z.B. auf das Wort ‚Fluch’ der Tritonus f#-a-h#]. [Auch auf das Wort ‚Verderben’ finden wir in der Instrumentierung einen Tritonus: e-g-b-c#. Die Musik alteriert also stimmungsmäßig hauptsächlich zwischen Moll- und tritonischen Passagen (verminderten Moll-Sept-Akkorden).]

Der Zauber des erhabenen Gesanges bannt selbst den schlimmen Dämon der Macht- und Besitzgier. Wotan überlässt den Ring den Riesen Fasolt und Fafner, die sogleich in Streit darüber geraten, wobei der eine den andern erschlägt.

 

”Furchtbar nun erfind sich des Fluches Kraft.” (Wotan, Rheingold, 4)

 

Fafner ist nun der neue Besitzer von Hort und Ring. Aus ihm gestaltet Wagner nun einen philosophischen Drachen, der die Problematik des verfluchten Goldes sehr instruktiv zur Darstellung bringt. Maßlose Habgier verwandelt Fafner in ein unmenschliches Wesen, ein drachenartiges Untier, dessen ausschließliche Beschäftigung darin besteht, seinen Besitz zu besitzen; - zu bewahren und zu bewachen. Das musikalische Symptom seines verarmten Lebens zeigt sich in einer Art Sprechgesang: er beherrscht nur einige wenige Töne, die er in tritonischen Intervallen aneinander reiht.

 

”Fafner, der wilde Wurm, lagert im finstren Wald;

mit des furchtbaren Leibes Wucht

der Niblungen Hort hütet er dort.” [Siegfried, 1, 1]

 

Die dunkle Zukunft des Untiers steht uns – als Konsequenz des Fluchs - vor Augen: Es wird von Siegfried [Siegfried, 2, 2] erschlagen. [Siegfried ist zwar vor niederer Habgier gefeit, aber der zeitweilige Besitz des Ringes wird auch ihm den Tod bringen. Auch der ”freieste Held” vermag dem ”gesellschaftlichen Unheilszusammenhang” (Adorno) nicht zu entrinnen.]

 

Der eigentliche Grund, warum Siegfried sterben muss, besteht m. E. darin, dass er mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht in die hierarchische Ordnung der ihn umgebenden Gesellschaft hineinpasst. Siegfired war zugleich Gefolgsmann und überlegener Wohltäter König Gunthers, indem er an dessen Statt den Kampf um Brünhilde in Gunthers Maske entschied. Daraus entsteht im Nibelungenlied der unheilvolle Rangstreit von Brünhilde und Kriemhilde. Wagner ersetzt diesen Handlungszusammenhang durch eine Geschichte von Liebesverrat, sinnverwirrendem Vergessenstrunk und dem Fluch des Ringes, dem nicht einmal Siegfried entgehen kann. In diesem Punkt billige ich der Version des Nibelungenlieds die bei weitem größere Plausibilität in der sozialpsychologische Motivation zu. Siegfried musste aus der hierarchischen Ordnung ausgesondert werden, weil mit seinem Auftreten am Burgunderhof die klare Gliederung in Unter- und Überordnung fraglich geworden war. Dieser Gedanke wäre Wagner sicher nicht fremd gewesen, tritt aber nicht hervor, weil Wagner die Geschichte des Ringes und nicht die Geschichte vom Untergang der Burgunder dichtete.

 

Fasolt liegt erschlagen auf der Szene, Fafner verzieht sich mit dem Hort in eine schwer zugängliche Drachenhöhle, Freia wurde durch die Übergabe des Lösegelds aus der Gefangenschaft befreit, so dass sie sich wieder der Hege des ‚jüngenden Obstes’ zuwenden kann. Wotan bleibt sorgenvoll mit den Seinen zurück, immerhin wurde ihm ein düsteres Ende prophezeit. Und die Burg: ”Mit bösem Zoll zahlt’ ich den Bau.” Loge versucht ihn aufzumuntern: Walhall wurde erbaut, der Auftrag hierzu wurde bezahlt, auch wenn es einige Aufregungen gab. Und die Feinde Wotans ”fällen sich selbst.”

Wir erleben nun die bereits erwähnte Gewitterdarstellung, danach tritt aus den sich verziehenden Nebeln die neu erbaute Burg im Abendsonnenglanz hervor:

 

”Abendlich strahlt der Sonne Auge;

in prächtiger Glut prangt glänzend die Burg.” [Wotan, Rheingold, 4]

 

Ein Regenbogen erscheint. Offenbar ein relativ stabiler Regenbogen, denn die Mitglieder der Götterfamilie schreiten auf ihm in ihre neue Residenz. – In prächtigen Instrumentierungskünsten, fast in hymnischer Weise, mit einsetzenden Wagner-Tuben, erklingt das Walhall-Motiv.

Loge versteht es, noch einige ironische Bemerkungen zu platzieren:

 

”Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen.”

 

Und an die Adresse der Rheintöchter gerichtet:

 

”Hört, was Wotan euch wünscht.

Glänzt nicht mehr euch Mädchen das Gold,

in der Götter neuem Glanze sonnt euch selig fortan!”

 

Das letzte Wort haben die anfangs erwähnten, so anmutigen Rheintöchter selbst. Sie erinnern sich an den mythologischen Urzustand, als das Leben unkompliziert und erotisch, den menschlichen Bedürfnissen in wirklicher Weise angemessen war.

 

”Reines Gold! O leuchtete noch

in der Tiefe dein lautrer Tand!

Traulich und treu ist’s nur in der Tiefe:

Falsch und feig ist, was dort oben sich freut!”

 

So endet Rheingold.

 

Nach all diesen Bemerkungen erscheint es mir hinreichend erkennbar zu sein, dass mit Wagners Rheingold ein außergewöhnliches Stück Musiktheater vorliegt. Der dramatische Inhalt ist soziologischer und sozialpsychologischer Art; - im Sinne eines umfassenden Darstellungsentwurfs gesellschaftlicher Wirklichkeit unter industriellen und geldwirtschaftlichen Bedingungen. Die Perspektive beschränkt sich nicht auf Familie, auf Schwierigkeiten mit verständnislosen Eltern, eifersüchtigen Geschwistern, auf Missverständnisse zwischen Liebespartners u. dgl., obwohl all dies auch enthalten ist. Wir finden in Rheingold eine Entstehungspsychologie der Macht, sowie die Darstellung der modernen gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Repräsentations- und Verwertungszwängen, in der mitmenschliche Belange oft auf der Strecke bleiben. Die handelnden Individuen unterliegen einer Psychologie innerer und äußerer Konflikte, aus Frustration und Verzicht entsteht die erstmalige Anhäufung [”ursprüngliche Akkumulation”] von werterzeugendem Reichtum [Kapital, Wirtschaftsmacht], die ein Machtgefüge anonymer ‚Sachzwänge’ und mitmenschlicher ‚Entfremdung’ entstehen lässt, wie es das 19. Jahrhundert erstmals im Weltmaßstab hervorbrachte. Die Psychologie der Personen wird in Zusammenhang gesetzt mit der entstandenen gesellschaftlichen Situation. Kurz, was wir hier finden, ist eine umfassende Gesamtschau menschlich- unmenschlicher Wirklichkeit in mythologischem Gewand.

Die Mythen der Nibelungen und nordischen Gottheiten wurden mit zeitgeschichtlichen Bezügen aufgeladen. In Verbindung mit Wagners Musik wurde ein multimediales Kunstwerk geschaffen [Gesamtkunstwerk aus Wort, Musik und Bühnendarstellung]. Handlung, Musik und Text wurden in einer Weise miteinander verknüpft, dass das Ganze für den, der sich damit etwas beschäftigt, eine Wirkung von unerhörter Eindringlichkeit zu entfalten vermag. Es ist durchgearbeitet bis in kleine Details, in allen sinnreichen Bezügen kaum aushör- und ausdeutbar. Kurt Pahlen verweist in diesem Zusammenhang auf Deutungen, die der ”Okkultismus” [”dem Wagner zweifellos nahestand”] gegeben habe: ”sie weisen die tiefe Bedeutung jeder Geste, jedes Wortes, jedes Symbols nach.”. Diesem Hinweis bin ich bisher nicht gefolgt. Im vorliegenden Aufsatz geht es mir hauptsächlich um die Verbindung soziologischer und psychologischer Motive.

Wagners Musik zur Ring-Dichtung ist weitgehend ein Gewebe aus Leitmotiven, die instruktiv eingeführt und verwendet werden. Dies gilt vor allem für Rheingold, Walküre und Siegfried. Die Leitmotive werden nicht statisch, sondern wandlungsreich je nach Situation verwendet, man erkennt auch sinnreiche Verwandtschaften, Verfremdungen und Umkehrungen der Motive: dies alles dient der Herstellung von Assoziationen, Anspielungen und Kommentaren. Wagners leitmotivisches Kompositionsverfahren erlaubt die Darstellung von Mehrdeutigkeiten und Vielschichtigkeiten [von Handlungen und Situationen]. Das Verfahren dient sozusagen der Darstellung von Text und Subtext, Gedanke und Hintergedanken gleichermaßen. Bei Wotan z.B. divergiert sein Handeln und Sprechen mit dem, was er insgeheim [auch] will. Dadurch dass sich Wagners Figuren in der Theaterszene beständig auf dem Assoziationsteppich der Leitmotive bewegen, entsteht eine Fülle von Anspielungen als Ausdrucksmittel komplexer Situationen und Handlungsstränge.

 

Einige Bemerkungen zur Figur Wotans:

 

Trotz seiner inneren Widersprüche, Inkonsequenzen und [ehemaligen] erotischen Eskapaden wirkt Wotan letztlich nicht als zwielichtiger oder schwacher Charakter. Er macht vielmehr eine gute Figur, wirkt respektabel und tritt würdevoll auf. Oft wird seinem Erscheinen die feierliche Walhall-Musik und das Speer-Motiv [das Motiv der Vertrags-Bindung] zugeordnet.

Der Konflikt Wotans zwischen öffentlicher, politischer Notwendigkeit und geheimer Sehnsucht nach mitmenschlicher  Nähe und Freiheit [auch erotischer] ist eine Art Grundwiderspruch der modernen Welt; - so jedenfalls muss es Wagner erschienen sein. Insofern Wotans Konflikt nicht durch willkürliche Launen und unsympathische Charakterfehler, sondern durch eine tatsächlich desaströse gesellschaftliche Situation erzeugt wird, wirkt Wotan weniger korrupt als seriös. Im Gegensatz zu Alberich erkennt er die allgemeine und persönliche Not und sucht nach einem Ausweg bzw. nach einem neuen Ansatz. Dass er der Not [auch der ‚nagenden Herzensnot’ (Siegfried, 1, 2)] letztlich keine Abhilfe zu schaffen vermag, entspricht der ungeheuren Schwierigkeit der entstandenen Probleme. Deshalb möchte Wotan das Ende:

 

”Auf geb ich mein Werk;

nur eines will ich noch:

das Ende, das Ende!” (Walküre, 2, 2)

 

Auf der Grundlage dieser negativen [”pessimistischen”] Bewertung [der menschlichen Situation in der industrialisierten Zeit] experimentierte Wagners theatralischer Geist mit allen Sorten von Erlösungskonzepten: erotischen, buddhistischen, christlichen, anarchistischen usw.. – Fliegender Holländer, erotische Erlösung, Tannhäuser, erotisch-christliche Erlösung, Ring – anarchistische, erotische und buddhistische Erlösung, Tristan, eine ganze Erlösungskatastrophe, Lohengrin und Parsifal, auch Erlösung, bei Parsifal diesmal anti-erotisch, mittelalterlich-christlich, die letzten Worte in Parsifal: ”Erlösung dem Erlöser”. Offenbar ist das ganze Wagner’sche Theater [Ausnahme: Meistersinger] Erlösungstheater, vielleicht sogar in positivem und negativem Sinne [von ”Theater”] gleichzeitig. [Er setzte m. E. vor allem auf die theatralische Wirkung von Erlösungstragik.]

Für Wagner zählte nicht die trockene Folgerichtigkeit in der Auffassung eines allgemeinen Grundgedankens oder gar philosophische Prinzipienstrenge, sondern das Maß an theatralischer Wirksamkeit, das er mit seinen Ausdrucksmitteln erreichen zu können glaubte. Der Ring ist ein Werk mit außerordentlich vielfältigem Assoziationsreichtum und bildet dennoch die integrative Einheit all seiner vielfältigen Motive. Rheingold insbesondere zeichnet sich durch einen Reichtum an sozialpsychologischen Erwägungen aus und ist insofern ”großes Welttheater”.

Auch Verschwörungstheorien und Ressentiment, zumal antisemitische[s], waren dem Geist R. Wagners nicht fremd. Das soll hier nicht unerwähnt bleiben. Ich denke aber, dass dieser Zug seines Charakters in der Ringtetralogie und auch in den anderen großen Stücken keine Rolle spielt, es sei denn, man wollte in der Darstellung von Alberich und Mime Rassistisches erkennen, weil hier physisch und psychisch ungestalte, ‚deformierte’ Wesen auftreten. Das erscheint mir aber überspannt, zumal Hagen als Sohn Alberichs entworfen wird. Hagen, der ‚finstere Mann’, erscheint mir genauso ‚germanisch’ wie Siegried, nur ist er im Gegensatz zum ‚freiesten Helden’ ein finsterer Held.

Man kann Shakespeares Kaufmann von Venedig [mit dem hartherzigen jüdischen Geldverleiher Shylock] mit größerem Recht als Wagners Ring als antisemitisch bewerten, aber man sollte bei diesen Reflexionen nicht vergessen, dass zwar die Nazis die Darstellung Shylocks für gelungen hielten und das Stück sehr lobten, nicht aber Shakespeare deshalb Parteigänger der Nazis war. Dies war er allein schon deshalb nicht, weil er um einiges vor ihrer Zeit lebte. Wagner, m. E. durchaus von zweifelhaftem Charakter, lebte nicht so lange vor den Nazis wie Shakespeare und ist mit seiner Schrift über das Judentum in der Musik auch tatsächlich ein Ahnherr ihres Antisemitismus gewesen. Aber mit seiner Ring-Tetralogie hat er ein Kunstwerk von großer Ausstrahlungskraft auch für Nicht-Nazis geschaffen. Man muss wirklich kein Nazi sein, um Wagners musiktheatralisches Werk zu schätzen. (Thomas Mann, G. B. Shaw und Ludwig Marcuse z. B. schätzten Wagner sehr und hatten überhaupt nichts für die Nazis übrig.)

[Warum ist es uns so befremdlich, dass ein zweifelhafter Charakter großartige Kunstwerke geschaffen haben soll? Bei Wagner scheint mir das tatsächlich der Fall gewesen zu sein. Ich weise darauf hin, dass auch Ludwig Marcuse der Versuchung widerstand, Leben und Werk des Meisters gleichermaßen hochzuschätzen. [Bei Wagners ‚zweifelhaftem Charakter’ denke ich neben seinem [eigentlich schwer verständlichen] antisemitischen Ressentiment vor allem an sein Verhalten gegenüber Gönnern, Förderern und Freunden [worunter Juden waren]. Hier nahm er sich m.E. viel heraus.]

Richard Wagner vermochte sich jedenfalls höchst theaterwirksam zu entfalten. Sein Antisemitismus fand m.E. keinen Eingang in die musiktheatralischen Konzeptionen, lediglich in sein Schrifttum. Wie er seine Philosophie des modernen menschlichen Lebens in Rheingold gestaltete, erscheint mir bemerkenswert frisch, amüsant und tiefsinnig zugleich. Es ist gerade nicht nur die Prätention auf erhabenen Tiefsinn [die man Wagner bisweilen einseitig unterstellt], der wir in diesem Kunstwerk begegnen, sondern auch ein bemerkenswerter Zug von spielerischer Ironie; - in dem nicht gerade geringen Vorhaben einer Gesamtschau moderner gesellschaftlicher Wirklichkeit. Wo sonst finden wir in der Oper eine so weit gehende Berücksichtigung soziologischer  Phänomene in der Auffassung psychologischer Motivationen? Und trotzdem so viel Sinn für die Psychologie des inneren Konflikts? Kranken doch viele unserer alltags-psychologischen Betrachtungen – vielleicht wegen der nicht zu bewältigenden Fülle der Aspekte – an einseitigen Auffassungen.

 

Die Uraufführung von Rheingold fand statt am 22.9.1869 im Münchner Hof- und Nationaltheater; - gegen den Willen Wagners, der offenbar über Geduld genug verfügt hätte, die Fertigstellung des gesamten Ringes und eines eigens nach seinen Wünschen und Bedürfnissen errichteten Festspielhauses in Bayreuth abzuwarten.

Richard Wagner hat innerhalb von 35 Jahren ein gewaltiges musiktheatralisches Werk komponiert, das er nun in einem eigens zu diesem Zweck errichteten Festspielbau zur Aufführung brachte. Der ehemals steckbrieflich gesuchte Hof-Kapellmeister und Sozialrevolutionär R. Wagner, der in den 48-er Jahren mit Bakunin und anderen über Sozialismus, Kommunismus und Anarchie diskutiert und auf der Barrikade in Dresden gekämpft hatte, war in stürmischer Zeit und in einem persönlich reich bewegten Leben zum Meister des Musiktheaters herangereift. Weltanschaulich gesehen war er nun so etwas wie ein Anarcho-Royalist, mit christlichen, sozialistischen, buddhistischen und antisemitischen Aspirationen; - jedenfalls Anti-Materialist und Erlösungsenthusiast, der entschieden ”nach jenen Höhen” verlangte. Da mag mancher denken wie Wolfram in seinem Lied an den Abendstern (Tannhäuser, 3):

 

”Der Seele, die nach jenen Höhn verlangt,

vor ihrem Flug durch Nacht und Grausen bangt.”

 

Er hat im Laufe der Jahre Hegel, Feuerbach und Schopenhauer rezipiert und aus 100 zeitgemäß, unzeitgemäßen weltanschaulichen Motiven ein musiktheatralisches Gesamtkunstwerk von ungeheurer Dimension geschaffen. Dieses Werk präsentiert er nun der Prominenz des Geisteslebens und den Spitzen der europäischen Aristokratie. Mehrere gekrönte Häupter und die damalige Weltpresse sollen anwesend gewesen sein. Wer das im einzelnen war, habe ich nicht recherchiert.

Am 13.8.1876 öffnete sich der Vorhang zum ersten Ring-Zyklus auf dem grünen Hügel in Bayreuth. Man stelle sich nur vor: die Prominenz der damals in der Öffentlichkeit den Ton angebenden  Kreise, hohe Repräsentanten des konservativ- reaktionären Hohenzollern-Deutschlands, Aristokraten aus dem übrigen Europa und die damalige Weltpresse, sie alle sitzen im Parkett, – es gilt ja das Bayreuther Prinzip eines demokratischen Theaterbaus ohne Logen mit allseits ungehinderter Bühneneinsicht, - und Wagner führt ihnen in seinem gewaltigen Kunstwerk die Sozialpsychologie der industriellen Moderne vor: das Entstehen des industriell erzeugten Reichtums aus dem Geist erotischer Frustration, die desaströsen Folgen sittenwidriger Finanzierungskonzepte bei großen öffentlichen Bauten, geschwisterlicher Inzest und Ehebruch zugleich, Anarcho- Siegfried, den Verächter von Konvention und Gesetz; - und ganz zum Schluss dann das Ende der Misere in einer großen Katastrophe. Danach hat sich der sensiblere Teil der Menschheit doch schon immer gesehnt; in namenloser Qual, nach Erlösung schmachtend:

 

”dass wissend würde ein Weib!” (Götterdämmerung, 3, 3, Schlussgesang Brünnhilde)

 

Eine Situation, die nicht der Ironie entbehrt. Das unerhörte Werk war wirklich ein Erfolg.

 

Es darf zum Schluss meines Essays nicht unerwähnt bleiben, dass G. B. Shaw in seinem Buch ”The Perfect Wagnerite” (1898) den Ring in konsequenter Weise sozialpsychologisch, sozialkritisch und politisch gedeutet hat. Eine solche Deutung findet m. E. ihre Stütze nicht nur in der Entstehungsgeschichte des Siegfried, sondern auch im endgültigen Text des Rheingolds, der z. B. Wagners zeitkritische Adaption der Niblungenwerkzeuge von Tarnhelm, Geißel und Ring explizit enthält. Shaws Buch liegt im Deutschen unter dem Titel ”Ein Wagner-Brevier” vor.

Wer sich die gesellschaftskritische Interpretation des Ring-Geschehens zu eigen macht, dem stellt sich unvermeidlich die Frage, ob Wagner am Ende nicht ein Anhänger der polit-ökonomischen Gesellschaftsanalysen von Marx gewesen ist. Diese Frage möchte ich auf einem kleinen Umweg beantworten.

Nach dem Zusammenbruch der zentralbürokratischen, planwirtschaftlichen Systeme des Ostblocks lässt sich eine solche Frage vielleicht etwas entspannter betrachten als zuvor in der Zeit der “Systemkonkurrenz”. Die Wirtschaftssysteme des Ostblocks hatten sich zu ihrer Legitimation auf Marx’ Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsform berufen und beanspruchten für sich, das historische Novum einer effektiv gesellschaftlichen [“politischen”] Kontrolle des wirtschaftlichen Lebens [im Sinn inhaltlicher, nicht nur ‚formeller’ Demokratie und Gerechtigkeit] tatsächlich realisiert zu haben. Im Endeffekt aber wurde in diesen Systemen, - um ein Adorno-Wort, das mir bereits bei der Charakterisierung Alberichs einfiel, zu wiederholen, die ”Utopie” eher ”liquidiert” als ”verwirklicht”. Die ”Utopie” wurde sogar auf besonders perfide Weise ”liquidiert”, indem gewaltige gesellschaftliche Unterdrückungs- und Kontrollmechanismen wie zum Hohn mit dem Vokabular der vollendeten gesellschaftlichen Befreiung verbunden und derart ‚hoch-dialektische’ Realitäten und Bewusstseinszustände hervorgebracht wurden. So z.B. die “real existierende” Misère in der DDR.

Im Zentrum von Marx Analyse der industriellen Gesellschaft steht eine Theorie des Warentauschs. Er sieht den Reichtum der modernen Welt als gewaltige Warenanhäufung. Der Warenaustausch selbst ist ihm der Strukturkern der industriellen Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse. In seinem ”Kapital” startet er mit allgemeinen Betrachtungen über die Tauschbarkeit verschiedenartiger Dinge, entwickelt Begriffe wie Gebrauchswert und Tauschwert [von Waren] und bestimmt den allgemeinen Warenwert als ”durchschnittliches Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit” [zur Erzeugung eines verkäuflichen Dings]. Nach und nach weitet er seine Betrachtungen aus auf so bezeichnende Phänomene wie Tausch- und Gebrauchswert der Arbeitskraft, Arbeitslohn, Mehrwert, Profit usw.. Dies ist in etwa seine Methode, vom Abstrakten zum Konkreten [in der Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit] ”aufzusteigen”. Der “abstrakte” Strukturkern besteht im Tauschphänomen, dessen Analyse geistesgeschichtlich zurückreicht bis in die Ethica Nicomachea des Aristoteles, der sich bereits vor mehr als 2000 Jahren mit Fragen der Tauschgerechtigkeit beschäftigt hat. [NE, Buch V, 1133 a 29 ff.] Die Struktur “Warentausch”, sozusagen der Elementarvorgang des modernen Wirtschaftslebens, wird mehr und mehr mit Details und Zusätzen “angereichert” und “konkretisiert”. Die Durchführung der Unterscheidungen von Gebrauchs-, Tausch- und Warenwert besonders für die Ware ”Arbeitskraft” wird zum alles entscheidenden Punkt: der Gebrauchswert gerade dieser Ware, auch wenn sie nach üblichem und gerechtem Standard eingetauscht wird, besteht in einer schwer durchschaubaren ”Mehrwertproduktion”. [Die Überlegungen zum Tauschwert der Arbeitskraft führen zur sog. “Subsistenztheorie” des Arbeitslohns.]

Marx gelangt letztlich zu dem immensen Anspruch, die gesamtgesellschaftliche Situation der modernen Industriegesellschaft im Wesentlichen durchschaut zu haben. Er glaubt, Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung aus seiner Arbeitswertlehre herleiten zu können, z.B. das Konkurrenzstreben der Wirtschaftssubjekte, Kapitalzentralisation, “tendenzieller Fall der Profitrate” usw.. Aus dem Missverhältnis (‚Widerspruch’) von “gesellschaftlichem Charakter” der Arbeit und der „individuellen Aneignung“ ihrer Produkte begründet sich für ihn die Erzeugung von gesellschaftlichen Spannungen, von denen her er die Entstehung  einer revolutionären Umbruchsituation erwartet. Er hält es für einen nicht zu stabilisierenden Zustand, dass die Existenzbedingungen einer kapitalbesitzenden Gesellschaftsklasse [mit Einkommen aus Unternehmensgewinnen] auf Dauer die Lebensverhältnisse der gesamten Gesellschaft dominieren könnten.

Interessant auch seine Bemerkungen darüber, dass wir in das allgemeine geldvermittelte Tauschgeschehen [Kauf und Verkauf] auch mehr und mehr Dinge hineinziehen, die mit Warenproduktion und Warentausch eigentlich nichts zu tun haben [bzw. haben sollten]. Prostitution und Sexgewerbe z.B. sind Wirtschaftszweige von nennenswertem Ausmaß. Hier erinnern wir daran, welche Rolle bei Wagner die Geschichte mit der feilgebotenen Liebesgöttin Freia spielt. Irgendwie wissen wir alle, dass man Liebe oder auch nur eine akzeptable sexuelle Beziehung nicht wirklich kaufen kann. Aber deshalb ist es noch lange nicht so, dass wir diese Dinge aus dem wirtschaftlichen Verwertungsleben wirklich heraushalten würden. Werbung und Verkaufsförderung bei verschiedenen Produkten setzen permanent auf die Erzeugung von Lebensgefühl und positiver Stimmung durch die ästhetische Stimulanz erotischer Motivation, wobei es eigentlich um Kaufanimationen geht. Wird hier, wiederum nach einem Adorno-Wort, das Menschliche zur “Maske des Unmenschlichen”? [Der “unmenschliche” Kern der Sache wäre in diesem Fall das Prinzip, dass sich irgendwelche Investitionen lohnen müssen, von denen die meisten von uns kaum etwas wissen. Das Lächeln schöner Frauen spricht uns “irgendwie” positiv an, aber ihr Lächeln ist nicht der Ausdruck mitmenschlicher Sympathie oder spontaner Lebensfreude, sondern Teil einer kalkulierten Verkaufsstrategie.]

Schweigen wollen wir davon, wie oft die schönen Künste und Wissenschaften ihre Musen (“Inspirationsquellen“) prostituieren. Der Künstler im Spannungsfeld von Leben und Kunst fordert geradezu zu Betrachtungen heraus über die Vermarktungs- und Lebensfähigkeit “utopischer” Gehalte in einer Welt der Verwertungszusammenhänge. Die Formulierung „utopischer Gehalt“ verwende ich an dieser Stelle für ein alltagskritisches Zauber- und Verwandlungspotential ästhetischer Kunst, die unser Lebens- und Freiheitsgefühl stimuliert, ohne uns am Ende lediglich eine neue Rasierseife verkaufen zu wollen. Es ist klar, dass Künste und Wissenschaften dieses Potenzial leicht auf’s Spiel setzen, wenn sie alltäglichen Nutzen als ihren hauptsächlichen Zweck erstreben.

Das plakative und drastische Wort von der prostituierten Muse birgt die Gefahr einer allzu scharfen Antithese von Kunst und Leben. Im Falle eines gelingenden Künstlerlebens, wofür es wunderbarer Weise gelungene Ansätze, vielleicht sogar wirkliche Beispiele gibt, wird auf die eine oder andere Weise die Frage der wirtschaftlichen Existenz beantwortet und zugleich ein selbstzweckartiges, „ästhetisches“ Gebilde erzeugt, das sich nicht in einer Kaufanimation erschöpft. Das gelingende künstlerische Leben in unserer Zeit enthält auf die eine oder andere Weise eine gelungene Antwort auf die Frage nach der wirtschaftlichen Existenz in der „wirklichen Welt“, dennoch enthält es den Verweis hinaus über die Zwecksetzungen und Verwertungsmechanismen des alltäglichen Lebens. Wo diese Vereinbarung gelingt, erleben eine besondere Anregung des Freiheitsbewusstseins und des kreativen Lebensgefühls. Wem die schmerzfreie Vereinbarung dieser „Gegensätze“ [„Verschiedenheiten“] gelingt, der darf sich wahrscheinlich zu den Glücklichen zählen. Er hat hauptsächlich darauf zu achten, nicht den Neid der Götter oder die Unbeständigkeit des Schicksals herauszufordern. Denn etwas Großartigeres kann ein Mensch m. E. nicht erreichen.

 

Nach dem kurzen Blick auf Marx können wir die Frage in Angriff nehmen, inwiefern wir ähnliche gesellschaftskritische Ansätze auch in Wagners Darstellung des modernen Industriewesens finden. Was mir zunächst dabei auffällt, ist der monolithische Charakter von Marx’ Ansatz, der ihn zu einer hochtheoretischen Strukturanalyse macht. Vielleicht ist dies seine Stärke und Schwäche zugleich. Diese Theorie ist aus einem Guss, aber es bleibt die Frage offen, was an dieser Warenwertlehre empirisch ist, was apriorisch, was wie verifiziert werden kann usw. oder ob wir so etwas wie eine apriorische Wirklichkeitserkenntnis vor uns haben. Strukturgedanken enthalten m. E. sehr oft etwas unbestimmt “Halbempirisches”, was sie weder direkt verifizierbar noch direkt falsifizierbar macht. Die “Wahrheitsfrage” bezüglich der “abstrakten” Strukturgedanken allein wird derart eventuell sogar unentscheidbar. – [Selbstverständlich gibt es auch andere Theorien des Warentauschs, und man müsste über Vor- und Nachteile der verschiedenen Ansätze Überlegungen anstellen. Dies ist ein sehr weites Feld und geht weit über meinen Horizont hinaus.]

 

Wagners Entwurf ist weniger theoretisch als Marx’ Ansatz. Wagner setzt sofort auf im Grenzgebiet zwischen Psychologie und Soziologie. Er führt uns Alberichs erotische Frustration vor und lässt daraus das Streben nach Reichtum und Macht entspringen. Das Phänomen unserer erotischen Bedürfnisse [und der Weg ihrer Befriedigung] führt uns m. E. besonders instruktiv vor Augen, wie sehr wir in unserem individuellem Bedürfnis von Mitmenschen und einer gesellschaftlichen Situation abhängig sind, obwohl der Antrieb hierzu in einer biologischen, ‚unhistorischen’ Naturanlage gründen mag. In allen Stücken, gerade auch in diesem, sind wir von Natur aus Kulturwesen, die von gesellschaftlichen Strukturen abhängen, in denen wir uns unserer selbst ‚entfremdet’ vorfinden. [Jeder einzelne von uns reproduziert solche Strukturen in leicht modifizierender Weise.] Bedürfnisse, besonders wenn sie nachhaltig sind oder in natürlichen Trieben gründen, sind leicht zu erregen, aber der Weg ihrer Befriedigung führt [wegen enormer gesellschaftlicher Mittelbarkeit] eventuell um die ganze Welt herum. Das monolithische, ökonomische Strukturdenken Marx’ war Wagner sicherlich fremd. Er strebte m. E. vor allem nach theaterwirksamer Darstellung. Ich halte das für legitim, weil er vor allem ein Mann des Theaters war. Was er ohne jeden Zweifel sah, ist die Tatsache, dass der Mensch mit der Veranstaltung eines industriellen Wirtschaftslebens besondere sozialpsychologische Probleme schafft, die wahrhaft nicht leicht zu lösen sind.

Wenn wir uns einmal versuchsweise frei machen von den alten doktrinären Diskussionen der “Systemkonkurrenz”, so erblicken wir ein Grundmuster zeit- und gesellschaftlichen Unbehagens, das für so gegensätzliche Personen wie Wagner, Marx, Nietzsche u. a. übergreifend gilt. Dieses Muster betrifft die Kritik an Industrialisierung, Kommerzialisierung, Technisierung [vielleicht auch Bürokratisierung] fast all unserer Lebensbereiche, wie wir sie [nach der industriellen Revolution] mehr und mehr als generalisierte Lebensform der modernen Zeit vorfinden. Viele große Geister dieser Zeit, - Künstler, Schriftsteller und Philosophen, waren sich [mehr oder weniger] darüber einig, dass hier schwer erträgliche Zustände entstanden waren. Jedenfalls erschien ihnen die Stellung des Menschen [mit seinen Bedürfnissen] in dieser neu entstandenen Wirklichkeit als keine ganz glückliche. Dabei ist es gerade eine spezifisch menschliche Naturanlage, welche die verzwickte gesellschaftliche Mittelbarkeit seiner Lebensführung hervor bringt. In den Folgen allerdings, welche die drei genannten Personen ihrer jeweiligen Denkart und Interessenlage gemäß zogen, unterschieden sie sich stark. Gewissermaßen war Wagner von den dreien der experimentierfreudigste, dem es im Endeffekt allerdings auch am wenigsten um gedankliche Konsequenz allein gehen musste, weil er die Wirkung vor allem auf dem Theater erstrebte.

Bei allen drei genannten Personen liegen Licht und Schatten eng beisammen: Nietzsche war ein brillanter Aphoristiker und Psychologie, aber auch dezidierter Anti-Demokrat, Marx ein subtiler Analyst des Warenaustauschs, aber auch ein Spötter bloß formeller Gerechtigkeit und repräsentativer Demokratie, Wagner ein genialer Theatermann, aber auch ein deklarierter Antisemit. Es ist wahrscheinlich unentscheidbar, wer der harmloseste und wer der schlimmste von ihnen war. Man kann die Ansicht verfechten, dass ein paranoischer und verschwörungstheoretischer Denkstil bei allen dreien vorhanden ist. Argwöhnische Unterstellungen gegenüber Andersdenkenden war niemandem von ihnen fremd

Der einzelne mit seinen individuellen Bedürfnissen ist abhängig von der Tatsache der gesellschaftlichen Mittelbarkeit in der Erzeugung fast aller Güter, die er zum Leben braucht. Mehr und mehr entpuppt sich diese Abhängigkeit als Abhängigkeit von der Stellung des einzelnen im Gesamtsystem weltumfassender Wirtschaftskreisläufe. Dies ist die ‚Dialektik’ von Individuum und Gesellschaft unter Bedingungen der globalisierten Wirtschaft. Das Problem, das uns geblieben ist [und m.E. auch bleiben wird], ist die Frage der Steuerung dieser komplexen Abhängigkeiten, ihre sinnvolle Organisation. Bürokratische Zentralplanungen haben sich als unhaltbar erwiesen, radikaler Marktliberalismus m. E. ebenfalls. Es bleibt die Frage offen, wo die politische Menschheit an Problemen leidet, für die es zumindest ” pragmatische” Lösungen gibt.

Zur kollektiven Selbstvernichtung [nach dem Vorbild der Götterdämmerung] werden wir uns kaum entschließen wollen. Das ist eher der Weg apokalyptischer Sekten, denen wir nicht nacheifern möchten. Jedenfalls halte ich dieses Vorhaben unter Bedingungen einer repräsentativen Demokratie nicht für politik- oder mehrheitsfähig. Die “bloß formelle” Demokratie dürfte den meisten von uns lieber sein als die “inhaltliche” Diktatur einer einzelnen Parteielite und bürokratischen Zentralmacht. Der antibürgerliche Bürger R. Wagner mit seiner so anregenden Vielfalt von Erlösungskonzeptionen steht uns heute in mancher Hinsicht näher als der Strukturtheoretiker Marx.

Ein letztes Wort zum „Erlösungsdenken“: Wenn das Herausfinden aus einer Situation der Not und Ratlosigkeit nur durch „Erlösung“ möglich ist, dann ist die Lage eigentlich verzweifelt und mit „normalen“ Mitteln nicht zu ändern. Erkennt man also bezüglich einer menschlichen Situation auf Erlösungsbedürftigkeit, so impliziert dies die Annahme „normaler“ Unlösbarkeit des Problems unter den gegebenen Bedingungen. Das Pathos in dieser Sache ist gewissermaßen „existentialistisch“: man hängt an gewissen Ansprüchen, von denen man weiß, dass sie zwangsläufig scheitern müssen, z. B. an dem Gedanken mitmenschlicher Verständigung, obwohl einem klar ist, dass man in einer behexten Welt lebt, mit der eigentlich nur wenig Verständigung möglich ist. Es erhebt sich die Frage, ob wir es in der Konzeption von solcherart gleichzeitig unentbehrlichen und unerfüllbaren „Voraussetzungen“ und Bedürfnissen des menschlichen Lebens mit einer überspitzten theatralischen Geste oder mit einer „realistischen“ Wahrnehmung zu tun haben. Denn gewissermaßen hat es etwas Unausgeglichenes und Verbohrtes, in einem Zug für die „normale“ Ausweglosigkeit unserer Situation und für Erlösungssehnsucht, ja sogar für Erlösungsenthusiasmus zu argumentieren.

Wagner verstand sich auf die theatralische Dimension unserer Existenz. Uns bleibt die Frage nach dem „Realismus“ dieser interessant widersprüchlichen Theatralik.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2002