Von der Perfidie des Orakels zu Delphi

 

„Gnothi seauton!“ war am Tempel des Apoll in Delphi als Sinnspruch zu lesen. Die Römer übersetzten es in „Nosce te ipsum!“, auf Deutsch heißt es: „Erkenne dich selbst“. Die Stätte am Fuße des Parnaß diente seit uralten Zeiten als Orakel. Eine Priesterin na­mens „Pythia“ versetzte sich dort öfters in Trance und vollzog nach einem kom­plizierten Ritual Weissagungen, von denen man annahm, dass Apoll selbst sie ihr einge­flüstert hatte.

 

Der Tempel war uralt. 548 v. Chr. war er nach einem Brand erneut aufgebaut worden, und zwar bereits zum dritten Mal. Das Orakel blieb dann noch viele Jahrhunderte lang in Betrieb, obwohl führende Kreise der griechischen Aufklärung [sicherlich] kritische Bedenken daran anzumelden hatten. Erst mit dem zunehmenden Erfolg des Christen­tums verlor sich die Bedeutung des Orakels zu Delphi mehr und mehr. Aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert stammt der letzte bekannte Orakelspruch der damaligen Phytia, in dem es um die Zukunft des Orakels selbst ging. Es erscheint mir erwähnens­wert, dass das Orakel das Ende seiner selbst voraussah. Die Antwort er­folgte, wie so oft vorher, auch diesmal in beeindruckenden Worten:

 

Künde dem König, das schöngefügte Haus ist gefallen. Phoibos Apollon besitzt keine Zuflucht mehr, der heilige Lorbeer verwelkt, seine Quellen schweigen für immer, verstummt ist das Murmeln des Was­sers.“

 

Das Orakel von Delphi ist die vielleicht berühmteste Institution des alten Griechen­lands gewesen, sein Motto der Selbsterkenntnis wird von fast allen uneingeschränkt für groß­artig gehalten, außer vielleicht von F. Nietzsche, der im – sozusagen unumgänglichen - Selbstbetrug, dem wir huldigen, eine List der Selbsterhaltung enthalten sah. [Menschli­ches, Allzumenschliches, Vorrede, 1] Aber das führt uns hier zu weit. Wir wollen le­diglich in Ansätzen der Frage nachgehen, ob wir dieses Orakel so ganz ohne weiteres als seriöse Institution ansehen dürfen. Verschiede­nen Geschichten zufolge war es näm­lich eine eher zwielichtige Sache.

 

Der Lyderkönig Krösus musste die Erfahrung machen, dass das Orakel zwar richtig wahrsagte, aber in missverständlicher Form. Das kam so: Krösus dachte über einen Feldzug gegen das Großreich der Perser nach und bestrebte sich, von allen damals be­kannten Orakeln Ratschläge einzuholen, - sogar schriftlich. Da er kein leichtgläubiger Mann war, bat er zunächst um ein Zeugnis der Glaubwürdigkeit und erhielt von der Pythia aus Delphi folgenden Bescheid:

 

„Weiß ich doch der Sandkörner Zahl und die Masse des Meeres,

selbst die Stummen vernehm ich, und den Nichtsprechenden hör ich,

Duft von Schildkröte ward mir bewusst, dem gepanzerten Tier,

die in ehernem Kessel gekocht wird, und Stücke von Lammfleisch,

Erz ist darunter gelegt, und Erz wird ruhn auf dem Kessel.“

 

Diese Antwort ward ihm vorgelesen, als er vor einem großen Kessel sah, in dem ein Ragout aus Lamm- und Schildkrötenfleisch kochte. Das war sein Lieblingsessen. Von der Qualität des Orakels war er nun überzeugt. Er stellte nun seine Anfrage wegen dem Verlauf des geplanten Perserkrieges. Die Antwort war diesmal:

 

„Wenn du den Halys (heute: Kizilirmak) überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“

 

Krösus wagte daraufhin den Krieg, und in der Tat wurde ein großes Reich zerstört. Aber es war sein eigenes. Er hatte den Orakelspruch als Siegesprophezeiung für sich selbst verstanden. Was er übersehen hatte, war die Tatsache, dass das Orakel lapidar zu formulieren pflegte, dabei aber eine Art tückischer, wenn nicht sogar gehässiger Zwei­deutigkeit beinhalten konnte. Dazu Heraklit ebenfalls kurz und bündig:

 

„Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört, verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an.“ (fr. 93)

 

Vielleicht erscheint uns das alles gar nicht so schlimm, weil wir keine Sympathie für Krösus besitzen, der ja schließlich einen Krieg begann und darin umkam. – Geschieht ihm recht, denkt man: Wer Wind sät und das Schwert zieht usw.. - Aber wie war es im Falle des armen Ödipus? Hier sehen wir die Perfidie des Orakels in einer ganzen Folge von entscheidenden Weichenstellungen in den Lebensläufen eines ganzen Adelsge­schlechts. Im Leben des Ödipus selbst wurden in allen wichtigen Entscheidungssituati­onen Sprüche aus Delphi eingeholt, aber abwenden ließ sich dadurch der Lauf des Ver­hängnis nicht:

 

1.     Der Ödipus-Mythos

 

Ödipus wurde wegen eines Orakelspruchs von seinen Eltern ausgesetzt, er sollte sogar getötet werden. Ansonsten werde er seinen Vater töten und ein blutschänderisches Ge­schlecht mit der eigenen Mutter zeugen. Er wurde in Theben geboren, noch als Säug­ling durchstach man seine Füße, man setze ihn aus, er wurde aber durch Zufall gerettet, man brachte ihn nach Korinth, das dortige Königspaar adoptierte das unbekannte Fin­delkind, und als er zu einem intelligenten jungen Mann – reizbar, stolz und voll von überschießender Emotion - herangewachsen war, sprach er – heimlich und auf eigene Faust - beim Orakel in Delphi vor: wegen einer Berufs- und Zukunftsberatung. Viel er­fuhr er nicht, jedoch dass er die Heimat meiden solle, sonst käme es soweit, dass er sei­nen Vater töte und mit seiner Mutter in Blutschande ein unseliges Geschlecht zeuge. Das erschreckte ihn gewaltig, er war bereit, alles zu tun, um das Entsetzliche zu ver­meiden.

 

Gerade aber das Orakel führte seine Entscheidung für den verhängnisvollen Weg her­bei, denn er dachte, seine Heimat sei Korinth. Also brach er nach Theben auf, wo er wirklich geboren war, was er aber nicht wusste. Wir erkennen: Wäre es zwischen Ödi­pus und seinen Adoptiveltern jemals zu einem offenen Gespräch über seine wahre Her­kunft gekommen, dann hätte er nicht - wie für ihn selbstverständlich - annehmen kön­nen, dass Korinth seine wirkliche Heimat sei, und er hätte seine Adoptiveltern auch nicht für seine wirklichen Eltern gehalten. Aber dergleichen Gespräche scheinen auf Erden nicht zu gelingen.

 

Verblendet zog der Jüngling in die Welt. An einer Wegeskreuzung kam es zu einer Vorfahrts-Rangelei mit einem älteren Mann, die wegen entsprechenden Rangbewusst­seins beider Beteiligten zu einer kämpferischen Auseinandersetzung mit Todesfolge für den älteren eskalierte. Sie erkannten nicht als ihresgleichen und zerfleischten sich im Kampf um Vorrang und Anerkennung. Im Endeffekt hatte Ödipus seinen Vater er­schlagen, ohne es recht zu bemerken. Der Alte hatte ihn ja demütigend behandelt.

 

In Theben angelangt, beseitigte er [vermittelst der Lösung eines Rätsels] eine blutrüns­tige Sphinx, welche die vielversprechendsten Jünglinge der Stadt zum ersten und zweiten Frühstück verspeiste [um dann gelegentlich auf das Mittagessen zu verzichten], heiratete die verwitwete Königin, hatte Kinder mit ihr, usw.. Das Orakel wirkte sich also aus wie eine ‚ganz gemeine’, d.i. eine gehässige Irre­führung; es wirkte als self full­filling prophecy [mit umgekehrtem Vorzeichen]. [Was man auf jeden Fall zu vermei­den versucht, erfüllt sich sonderbarer Weise biswei­len umso zwingender.]

 

Das Orakel ist kurz, aber kryptisch. Es beinhaltet Tücken.

 

In beiden Fällen, - also bei Krösus und Ödipus -, nützen die Aussprüche des Orakels den Betroffenen überhaupt nichts, sondern die trügerische Sicherheit, die ihnen das Orakel gibt, treibt sie sogar noch vorwärts in ihr Verderben. Die alten Griechen waren fasziniert vom Phänomen des zweideutigen, unpräzisen Wortes und dem Gedanken des unentrinnbaren Schicksals. Sie hatten sehr viel Sinn für die Tragik und Paradoxie des menschlichen Lebens. Leicht stellt sich bei dem fernen Betrachter der Gedanke ein, dass ein Zug von Anti-Humanismus und schwarzer Pädagogik in die­sen Auffassungen enthalten ist.

 

Es ist allerdings sehr genau beobachtet, dass gerade zweideutige, unpräzisierte [und letztlich vielleicht unpräzisierbare] Worte wie z.B. Freiheit, Wahrheit, persönliche Leistung, Liebe etc. als „Mythen des Alltags“ Schicksal bestimmende Größen darstel­len. Ein fälschlich angenommenes Wissen, ein trugvolles „Fehlwissen“ bezüglich an­geblicher und scheinbarer „Selbstverständlichkeiten“ führt uns auch zweieinhalb Jahr­tausende nach Sophokles oft genug auf Irrwege. – Gerade auch auf dem Weg zur Wahrheit sitzen Chimä­ren. Wer nicht zu Irrtümern fähig ist, der ist auch nicht zu ihrer Überwindung befähigt. - Als „Fehlwissen“ bezeichne ich stillschweigend angenom­mene Überzeugungen, die keiner eingehenden Prüfung standhalten würden, wenn man eine unbefangene Prüfung vornehmen würde. Dabei verhindern diese stillschweigend angenommenen „Selbstverständlichkeiten“ aber „wirklich fundierte“ Einsichten, weil wir uns in diesen Fällen der wirklichen Einsicht nicht für bedürftig halten. Hartnäckig ver­suchen wir tiefsitzende Überzeugungen aus der Diskussion her­aus zu halten und blo­ckieren dadurch in manchen Fällen das Verständnis der Si­tuation, in der wir uns befin­den. – Die unbefangene Prüfung fälschlich angenommener Selbst­verständlichkeiten setzt eine distanzierende Bezugnahme auf diese „Scheinbar­keiten“ voraus, die uns nur selten gelingt, eben weil wir in der Illusion befangen sind.

 

428 v. Chr. brachte Sophokles seinen König Ödipus auf die Bühne in Athen, angesichts von Kriegsnot, Flüchtlingselend und einer in den Flüchtlingslagern ausgebrochenen Seuche; - wie damals in Theben. - Ödipus ist vielleicht der eindrucksvollste Mythos zum Thema „Orakel und Selbsterkenntnis“, den es in der gesamten Menschheitsge­schichte gibt. Durch die gleichsam magische Wiederholung des Leitmotivs der Selbst­erkenntnis in verhängnisvollen Situationen wirkt die theatralische Konstruktion des Stoffes un­heimlich und faszinierend. Ein [für den Betroffenen unerkannter] Wiederho­lungszwang lastet wie ein Fluch auf dem Leben dieses Betroffenen. Ein letztlich grundlegendes Ur-Problem erzeugt sich selbst erneut nach jeder scheinbar gelungenen Problemlösung, wenn auch in veränderter Gestalt. Es besitzt die Struktur einer fraktalen Konstruktion.

Das Rätsel der thebanischen Sphinx erscheint uns, die wir allerdings die Lösung vor­weg kennen, nicht besonders schwierig. Es lautete:

 

„Ein Zweifüßiges gibt es auf Erden, und ein Vierfüßiges,

mit dem gleichen Namen gerufen, und auch dreifüßig.

Die Gestalt ändert es allein von allen Lebewesen,

die sich auf der Erde, in der Luft und im Meere bewegen.

Schreitet es, sich auf die meisten Füße stützend,

so ist die Schnelle seiner Glieder am geringsten.“

 

So das Rätsel von Ödipus’ Sphinx, einem ebenfalls fraktalen Wesen, das selbst wie­derum wie aus den Motiven des Ödipus-Mythos konstruiert erscheint. [Es gibt ver­schiedene Geschichten für die Herkunft der Sphinx, eine ist folgende:] Tochter der Blutschande der scheußlichen Echidna und ihres Sohnes Orthos, verkörpert sie selbst ebenfalls Ödipus‘ Schicksal und Problem: Macht, Gewalt und verbotener Sex. Echidna selbst war eine doppelgestaltige Nymphe, mit dem Oberleib einer schönen Jungfrau und dem Unterleib einer schrecklichen Schlange. Mit dem Riesen Typhon hatte sie ne­ben der Sphinx verschiedene andere Ungeheuer gezeugt: u.a. den Höllenhund Kerberos und ein feuerspeiendes Scheusal namens Chimaira.

Ödipus sitzt gelassen mit dem Wanderstab in der Hand vor der Säule, auf der das Un­geheuer, die Sphinx thront, und spricht distanzierte Worte: „Das ist der Mensch“; - ohne die Situation mit der Sphinx in ihrer ganzen Tragweite zu durchschauen: „Ich bin ein Mensch wie du selbst und wir alle“, hätte er nämlich sagen können: „was du mit deiner rätselhaften Doppelgestalt darstellst, ist das Konstruktionsprinzip meines mir vorausgesagten Verhängnisses. Dein explizit formuliertes Rätsel allerdings betrifft den Menschen ganz allgemein.“ Ödipus lässt sich nur auf die explizite Formulierung des Rätsels ein und antwortet seinerseits in ebenfalls wohlgesetzten Worten:

 

„Den Menschen hast du gemeint, der, wenn er noch auf der Erde herumkriecht, kaum geboren, zuerst vierfüßig ist, wenn er aber alt wird und unter der Last des Greisentums zum dritten Fuß den Stock ge­braucht, dann auch dreifüßig.“

 

In der Gestalt der Sphinx finden wir, wie erwähnt, die Verkörperung des Ödipus-Mo­tivs von Gewalt und Inzest. Aber nicht nur im Leben des Ödipus selbst, sondern auch in der gesamten Ahnenreihe des Ödipus wiederholen sich Gewalt, Inzest sowie das Auf­treten von weiblichen Ungeheuern. Kadmos, Ur­ahn und Gründer von Theben erschlug einen [wahrscheinlich weiblichen] Drachen, säte die Zähne des Ungeheu­ers in Erdfur­chen, woraus die gewalttätigen Drachenzahnmänner entsprangen, die sich fast alle ge­gen­seitig erschlugen. Fünf davon überlebten und bildeten den alten Gründeradel der Stadt Theben. [Nach ei­ner anderen Überlieferung war der Drache, den Kadmos er­schlug, allerdings ein Sohn des Mars, also männlichen Geschlechts.]

 

Zudem zeugte Kadmos, nunmehr auf die übliche menschliche Art, mit einer göttin-ähnlichen Frau (Har­monia) mehrere Töchter, einerseits Semele, die Mutter des Diony­sos, andererseits drei unselige Töchter: Autonoe, Ino und Agaue. Über Iokoste war Ödipus ebenfalls Nachfahr dieser Agaue, die (als rasende Mänade) ihren eigenen Sohn (Pentheus) zerfleischt hatte. Zudem war er über Iokaste auch Nachfahr des Enchion, ei­nes jener gewalttätigen Drachenmänner, die am Anfang der Geschichte Thebens stehen. Die Laios-Linie von Ödipus Abstammung geht über Labdakos und Polydoros, dessen Name, der Vielge­bende, euphemistisch umschreibt, was Ödipus aus dieser Ahnenreihe zu erwarten hatte und tatsächlich auch reichlich empfing; eine ganz Menge Unheil nämlich.

 

Dass nun der Drache von Theben weiblichen Geschlechts war, leite ich aus der Tatsa­che ab, dass es so viele weibliche Ungeheuer in der griechischen Mythologie gibt. Be­drohliche Phantasie- Gestalten unge­heuerer Weiblichkeit. Beispielsweise die Hydra, die Medusa, die Chimaira, die Sphinx, die Sirenen, die Harpyien, die Amazonen und viel­leicht noch andere mehr. Sind dies Zeugnisse und Symbole einer anti­ken Auffas­sung vom Kampf der Geschlechter? Vielleicht mit dem prähistorischen Hintergrund, dass ent­stehende patriarchalische Lebensverhältnisse sich erst allmählich und nicht ohne schmerzlichen Konflikt von einer alten agrarischen Frauenkultur mit mutterrecht­lichen Erblinien ablösen konnten? Mit der dunklen und schmerzlichen Erinnerung [für die er­starkten Patriarchen] an eine alte Übermacht der Ur-Mütter?

 

Das psychoanalytische Konzept der Verdrängung beinhaltet die Wiederkehr verdräng­ter [weil unakzep­tabler] Erinnerungsinhalte in [ungeheuerlich] wuchernden Phanta­sien. Es erscheint mir naheliegend und plausibel, die weiblichen Schreckensgestalten der Mythen als Ausdruck angstbesetzter Phantasie aufzu­fassen. Aber die Hypothese einer alten, von Männern zu fürchtenden Frauenkultur zur Erklärung der vielen weibli­chen Ungeheuer [und tragischen Loyalitätskonflikte wie z.B. in der Orestie] erscheint mir dennoch weit hergeholt. Wieso sollte denn ein ehemals vielleicht matrilineares Erb­fol­ge­recht eine der­art unakzeptable Situation dargestellt haben, dass die Erinnerung daran [vonseiten der Männer] so schreckliche Phantasiege­burten her­vorbringen konnte? Nur wenn dieser Urzustand etwa mit der Lust­sklaverei und man­gelndem sexuellen Selbst­bestimmungsrecht der Männer verbunden gewesen sein sollte, wäre der Schrecken be­rechtigt.

 

Es erscheint mir völlig ausreichend anzunehmen, dass Geschichten von Familienehre, Standesdünkel, Gewalt, Inzest oder sonstigem hochproblematischem sexuellen Enga­gement auch ohne mutterrechtlichen Hintergrund Horrorvorstellungen auslösen kön­nen. Es ist übrigens ein realistischer Zug dieser Mythen, dass sie solche Geschehnisse nicht etwa bei sozial deklassierten Familien und Außenseitern der Ge­sellschaft auf­spürt. Diese Geschehnisse werden vielmehr von den angesehensten Kreisen der my­thologi­schen Vorzeit erzählt, nämlich vom alten Gründeradel, dessen Angehörige von gewöhnlichen Zeitgenos­sen oft als Gewinner des Lebens angesehen werden.

 

Mit dem Thema des unerkannt wirkenden Wiederholungszwangs, gerade in schicksals­prägenden Situ­ationen, haben die alten griechischen Dichter eine bedeutende psy­cholo­gische Einsicht sehr artistisch und eindringlich gestaltet.

 

Das Problem von Ödipus Antwort auf die Frage der Sphinx war also, dass ihm der Rückbezug seines Wissens auf sich selbst nicht gelang. - So ergeht es uns wahrschein­lich allen immer wieder auf’s Neue. - Ödipus wusste viel und dachte auch darüber nach, er löste sogar das Rätsel, aber das Grundmotiv seines eigenen, schicksalsbe­stimmten und schicksalsbestimmenden (Not reproduzierenden) Wesens übersah er. - Dieser As­pekt der Situation erschien ihm vermutlich als sekundär und nicht so wich­tig. - Er übersah – trotz wohlgesetzter Worte - eine Mehrdeutigkeit der Situation. Dieser Gedanke muss die Alten fasziniert haben. – Der Gedanke des missverständlichen Wor­tes in mehrdeu­tigen, problematischen Entscheidungssituationen. In solchen Situatio­nen fallen wir auf ein­fache, tiefsitzende Grundanschauungen zurück, die in der Regel irre­führend sind, z.B. auch den Glauben an die Wohltätigkeit und Eindeutigkeit des Ora­kels.

 

Dazu passt sehr schön der Lebensskript-Gedanke von F. S. Perls und Eric Berne aus der psy­chologi­schen Literatur der letzten Jahrzehnte: „Alle Ihre Entscheidungen werden von vier oder fünf Menschen in Ihrem eigenen Kopf getroffen, deren Stimmen Sie natürlich überhören können, wenn Sie dazu stolz ge­nug sind, aber schon das nächste Mal sind sie wieder da und warten nur darauf, dass Sie ih­nen diesmal wirklich zuhören.“ [Eric Berne, Was sagen Sie, nachdem Sie <Guten Tag> gesagt haben, Fi­scher-Ta­schenbuch, S.163] So folgten Laios und Ödipus bei der Begegnung an der Weggabelung dem Motto „Du musst kämpfen, wenn dir jemand deinen Vorrang streitig macht!“ Überlegungen über die de­struktive Ei­genart von Konflikteskalationen wären zweckmäßiger und lebensfreundlicher gewesen.

 

Man kann sagen: Ödipus‘ Wissen versetzte ihn in die Lage, das Rätsel zu lösen und da­durch die Sphinx zu besiegen, aber dieses Wissen stellte nicht die Art von Einsicht dar, die ihm hätte dazu verhelfen können, den unseligen Wiederholungszwang zu brechen, dem sein Leben unterlag; - wenn es denn diese Art von Selbsterkenntnis überhaupt gibt, die zur Befreiung von Wiederholungszwängen hilft. Dies wäre eine Art von erlösender Einsicht, eine Soteriologie. Es stellt sich natürlich immer wieder die Frage, ob es wirk­lich eine Art von heilsamer Selbsterkenntnis gibt, und wie es um deren Eindeutigkeit [bzw. „praktisch“ hinreichende Präzision] steht. Es könnte ja auch sein, dass mit der Aufforderung zur Selbsterkenntnis ganz all­gemein überspannte Erwartungen verbun­den werden, die genau deshalb, weil sie über­zogen sind, Probleme erzeugen.

 

Die Rätsellösung ward ohne tiefere Selbsterkenntnis bewerkstelligt. Also erwies sich das Thema der Selbsterkenntnis als weiterhin steigerungsfähig. Für die Notlage The­bens mit der Sphinx war ein Ausweg gefunden worden, der Ausweg aber schuf ein neues Problem: diesmal die Pest. Die Tyrannei der Sphinx verschlang pro Tag ein bis zwei Menschenopfer, die Pest, die nach ein paar Ruhejahren über die Stadt hereinbrach, war wahrscheinlich viel schlimmer.

 

Nebenbemerkung: die feinschmeckerische Sphinx verschlang nur Jünglinge, niemals ein Mädchen; - ältere Menschen sowieso nicht, weil sie die Zartheit des Fleisches be­vorzugte. Auf die Jünglinge Thebens übte sie trotz der drohenden Lebensgefahr eine große Anziehungskraft aus. Ich denke, das hat etwas mit der sexuellen Faszination zu tun, die sie auf die Jünglinge ausübte, wobei die drohende Gefahr den Reiz der Situa­tion vielleicht sogar noch erhöhte. Solche Faszinationen können nicht nur unvorsichti­gen Jünglingen den Sinn verwirren. Jeder, der Abenteuer bestehen will, die das Maß des Üblichen weit überschreiten, befindet sich in der Gefahr, dass ihm die Sache dann doch über den Kopf wächst.

 

Ödipus aber konnte die Rätsel- Situation mit der Sphinx bewältigen, wenn auch auf et­was vordergründige Weise. Der rote Faden der zweideutigen Orakel führt nun zur nächsten Notlage. Wegen der Pest hat sich eine neue Situation der Ratlosigkeit ergeben, in der man Hilfe beim Orakel sucht. Diesmal nennt das Orakel die Schuld, aber nicht den Schuldigen: ungesühnter Vatermord und Blutschande laste auf der Stadt.

 

Ödipus lässt Nachforschungen anstellen, er gebärdet sich als Radikal- Aufklärer des Verbrechens. Da er aber „verblendet“ ist, erkennt er nicht, was er selbst zur entstande­nen Notlage beigetragen hat, und dass er selbst es ist, auf den die Misere zurückgeht. - Inte­ressante Variante eines Krimis: der Kommissar als Mörder und Sexualstraftäter zu­gleich; - sie wussten aufzutragen, diese alten, griechischen Geschichtenerzähler (My­thologistes). - Ödipus selbst ist Täter der Tat, die er um jeden Preis verhindern wollte, und die er jetzt aufklären und bestrafen lassen will. Alle andern ahnen längst, worin der wahre Sachverhalt besteht, wenn sie auch nicht bis in die Einzelheiten hinein wissen, wie sich das Verhängnis zugetragen hat.

 

Letztlich, als es vielleicht schon zu spät ist, einem noch zu steigernden Verhängnis zu entrinnen, erkennt Ödipus, dass er selbst der Täter der verhängnisvollen Taten gewesen ist, welche die Pest für Theben heraufbeschworen hat. In theatralischem Überschwang sticht er sich die Augen aus und wirft sie von sich, weil sie ihm in seinem bisherigen Leben so wenig zur Erkenntnis der wirklich maßgeblichen Wirklichkeit nützlich waren. Die weisen Seher der Griechen waren fast ausnahmslos blind, sei es, dass sie den ver­botenen Anblick nackt badender Göttinnen erhascht hatten (wie Teiresias) oder viel­leicht ganz einfach deshalb, um zu e­xemplifizieren, dass durch den gewöhnlich ober­flächlichen Anschein der Dinge kein Wissen entsteht, das wirklich zählt.

 

Ödipus verabschiedet sich von uns mit dem Weisheitsspruch: „Nemo ante mortem be­atus laudandus.“ Was das Glück des Lebens betrifft, so könnt ihr nicht beurteilen, wie es darum steht, bevor das Leben zu Ende ist; - denn zum Schluss kann es noch so schlimm kommen, dass nichts Erreichtes uns zu trösten vermag. - Aber nach dem Le­ben sind wir vielleicht auch nicht mehr in der Lage, diese Bilanz zu ziehen, falls es uns dann nicht mehr gibt; - also sollten wir uns mit Aufrechnungen von Glück und Un­glück, von Erfolg und Misserfolg, zurückhalten. - Es ist wirklich bemerkenswert, wie sehr wir nur auf kurzfristige, allenfalls mittelfristige Vorteile aus sind und an der au­genblicklichen Situation kleben: selbst die eigenen Nöte sind uns fern, wenn sie ent­sprechend weit entfernt in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen:

 

„Bürger von Theben, seht diesen Ödipus, der die berühmten Rätsel löste, und der ein so mächtiger Mann war, auf dessen Glück die Bürgen mit Neid schauten. Auf welche Woge schrecklichen Unglücks er ge­worfen wurde! Deshalb, wer sterblich ist, schaue auf jenen letzten Tag und preise niemanden selig, bevor er an’s Ziel des Lebens gelangte, ohne Leid zu erfahren.“

 

Ödipus wollte dem Verhängnis entrinnen, aber es gelang ihm nicht. Ist es überspitzt, auch die Frage seiner nicht gelingenden Selbsterkenntnis in den Zirkel von Verhängnis und Verblendung mit hinein zu nehmen? Das sieht dann so aus: Ödipus kann (infolge Verhängnis) nicht erkennen, dass er dasjenige Wesen ist, das seinem Verhängnis nicht zu entrinnen vermag. „Ich bin das Wesen, das nicht erkennen kann, dass es seinem Verhängnis unentrinnbar ausgeliefert ist.“ Wäre es das gewesen, was er hätte erkennen sollen? Eine wahrscheinlich paradoxe Aufforderung schwarz-psychologischer Art! Ob ihm denn die Einsicht in die unentrinnbare Notwendigkeit seines Schicksals hätte hel­fen können? Ob er diese Einsicht hätte vollziehen können, wo es doch sein auswegloses Verhängnis war, sie nicht zu vollziehen?

 

Ist es die Pointe und der Gipfel der Perfidie des Orakels: dass es uns in jeder ausweglo­sen Notlage mit der Aufforderung zur Selbsterkenntnis anspornt und uns gerade da­durch zum Vollzugs- Agenten unseres eigenen Verhängnisses macht?

 

„Geschlechter der Sterblichen. Wie muß ich euch gleich dem Nichts, ihr Lebenden, zählen! Denn wel­cher Mann trägt mehr des Glücks davon als den Schein? Und nach dem Schein den Niedergang.“

 

So klagte er ganz am Schluß.

 

Oder ist es die Pointe des Orakels, dass wir keine einfachen Antworten in komplexen Entscheidungssituationen erwarten dürfen? Dass unsere Irreführung nur aus der still­schweigenden Erwartung von Eindeutigkeit und Einfachheit herrührt? Dass wir gerade wegen unrealis­tischer Eindeutigkeits- und Einfachheitserwartungen eigentlich stim­mige Orakelsprüche missverstehen und dadurch zu Agenten unseres Verhängnisses werden?

 

Die Betrachtungen über die Orakel des Ödipus haben uns zur familiengeschichtlichen, „systemischen“ Konstruktion von Wiederholungs- und Schicksalszwängen geführt. Diese Betrachtung eröffnet sogar eine Deutung dafür, warum das Orakel lapidar und zweideutig in einem ist:

 

Kleine, familiäre Gemeinschaften explizieren ihre stillschweigenden Voraussetzungen, Wertvorstellungen, Überzeugungen und typischen Verhaltensmuster [„Traditionen“] nicht in ruhigen, ausgegliche­nen Situationen vermittelst hinreichend distanzierter und hinreichend präziser sprachli­cher Wendungen. Sie vermit­teln diese stillschweigenden Annahmen und Praktiken dem heranwach­senden Nachwuchs „in­tu­itiv“ und „implizit“ in oft tempera­ment- und affektvollen Handlungs-Situatio­nen, wobei grundle­gen­den Mus­ter und Strukturen dieser Situationen keinem der Beteiligten hinrei­chend of­fenbar sind. Noch dazu handelt es sich bei diesen Situati­onen um „asymmetri­sche“ Situ­ationen zwi­schen er­wachse­nen Menschen und unerfah­renem Kind. Wenn wir nun ein­mal, so­zu­sa­gen ganz fiktiv, voraussetzen, ent­scheidende Dinge im mensch­lichen Leben seinen Fra­gen um Themenkomplexe wie Sex, Macht, Ge­walt und selbst­verständlich auch Geld, dann bedeutet die Kürze und Zweideu­tigkeit des Orakels ganz ein­fach, dass über die wirklich ent­schei­denden Dinge nicht in angemesse­ner, genügend präziser und aus­gereifter Weise ge­sprochen und nachgedacht wird. Wir treffen auch hier auf sprachli­che Wen­dun­gen des „wohlfeilen Ungefährs“, die in ent­sprechender Situation als hinrei­chend präzise ak­zeptiert werden, weil sie aus oft ganz „unsachli­chen“ Gründen den ent­scheidenden Ein­druck hinterlassen.

 

Th. Mann lässt den weisen Alten unter den Kaufleuten, die Joseph nach Ägypten mitführen, folgendes sa­gen: „Ich weiß, dass manches Geheimnis waltet in der scheinbar so offenkundigen Welt und seltsam Verschwiegenes sein Wesen treibt hinter ihrem lauten Gerede. Ja, oft kam mir’s vor, als ob die Welt nur darum so voller lauten Geredes sei, dass sich besser darunter verberge das Verschwiegene und überredet werde das Geheimnis, das hinter den Menschen und Dingen ist.“ – Die Art der leitenden Gesichtspunkte bei unserer Aufmerksamkeitslenkung sind uns m. E. „unbewusst“. Über bestimmte Interessen wollen wir nicht reden, verfolgen sie aber doch, ohne sie jemals im Lichte des Bewusstseins reflektiert zu haben, ohne recht darüber nachgedacht zu haben, was wir uns selbst und andern damit antun. Die Weisheit des alten Kaufmanns besteht also in einer Aufmerksamkeit auf Dinge, über die man aus irgendwelchen Gründen weder explizit noch laut redet. Das sind ge­nau die wirkungsmächtigen Hintergründe Sex, Macht, Gewalt und Geld.

 

Selbst für die Frage, was die lebensmächtigen Dinge sind, gilt die­ses Defizit. Offen­bar befürchten wir Verunsicherung und ausufernde Weitläufigkeit der Auseinanderset­zung, wenn wir in Fragen der wirksamen lebensmächtigen Hintergründe allzu explizit wer­den.

 

Weil wir in diesen Punkten nicht klar sehen, behandeln wir sie in der Weise still­schweigender und unprä­zisierter Voraussetzungen und Annahmen; - in Andeutungen, beiläufigen Nebensätzen, Fußnoten und in beiläufigen, nicht recht dingfest zu machen­den Hinweisen. Wir reden, selbst für unsere eigenen Zwecke, aus irgendwelchen Grün­den nicht hinreichend prä­zise [z.B. auch über Themen wie Anerkennung, Macht u. dgl.] und bleiben daher in ganz entscheidenden Dingen zweideutig und unaufmerksam. Auch umgekehrt: weil wir unpräzise und zweideutig reden, kommen wir zu keiner [auch für eigene Zwecke] zureichenden Auf­fassung darüber, was die wirklich maßgeblichen Dinge in unserem Leben sind. Dabei sollten wir uns m. E. nicht zu sehr auf den Sex al­lein fixieren. Es handelt sich vielmehr um eine schwer zu durchdringende Gemengelage von verschiedenen Schicksalsmäch­ten, wozu der Sex sicherlich gehört, aber eben ganz wesentlich in Zusammenhang mit Fragen von ökonomischer Existenz, von gesell­schaftlicher Anerkennung, Macht und Moral. Die Kom­plexität im Gefüge unserer „we­sentlichen“ Abhängigkeiten übersteigt m. E. unser faktisches Wissen da­von in fast je­dem Fall. „Du glaubst zu schieben, doch du wirst geschoben“, dichtet Goethe in entspre­chendem Zusammenhang.

 

Unter dem Strich bleibt die Frage offen, ob wir durch entsprechende, auch persönlich durchdringende Erkenntnisse [lebensbestimmender Familien- und Gemeinschafts­mächte] Wiederholungsmuster wieder zu verflüssigen vermöchten, wenn sie uns zwanghaft und starr zu er­scheinen beginnen.

 

Nach Auffassung des Aristoteles war es der Sinn der Tragödie mit ihrer in’s über­menschliche Maß ge­steigerten Darstellung menschlichen Verhängnisses und Schei­terns, eine affektive Reinigung bei den Zu­schauern zu vollziehen. „Katharsis eis diago­gen“ hieß die Formel hierfür [in seiner Poetik], d.i. die Rei­nigung von Affekten und Scheinbarkeiten , die der Selbsterkenntnis im Wege stehen. Stimulanz des eige­nen, be­freienden Gedankens durch Werke der Kunst? Eine m. E. wirklich bemerkenswerte äs­thetische Theorie.

 

Die Frage bleibt offen: Hätte Ödipus, ein Sohn solcher Eltern, durch die Vorgeschichte mit solchen Un­geheuerlichkeiten belastet, durch Vollzug der richtigen Art von Er­kenntnis in der Rätselsituation [‚ich bin es’] einen Ausweg aus dem Verhängnis finden können?

 

2. Sokrates

 

Verfolgen wir nun in einer anderen Linie, wie seriös bzw. zwielichtig das Orakel mit seinem legendären Leitspruch war, auf den sich auch heute noch so viele berufen.

 

Das alte Griechenland war nicht nur das Land der düsteren Bocksgesänge (Tragödien) und der Dramaturgie der Ausweglosigkeit. Es war zu einem kleinen Teil auch das Land der apollinischen Künste, der Philosophie und der freundlichen Sitten. Und das Orakel war ja eigentlich dem Apoll geweiht, dem Gott des Frühlichts und der aufgehenden Sonne.

 

Sokrates, ca. 30 Jahre nach Sophokles geboren, galt nach einem Spruch des delphischen Orakels als der Weiseste seiner Zeitgenossen. Ihm wird ein entsprechender Spruch zu­geordnet, der es in sich hat: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Diese Denkfigur des wis­senden Nicht-wissens wird uns nun beschäftigen.

 

Chairephon, ein Schüler des Sokrates, soll das Orakel in Delphi nach dem Weisesten unter den Menschen befragt haben und erfuhr: „An Weisheit nimmt es keiner auf mit Sokrates.“

 

Wenn das Orakel dem Sokrates wirklich den Rang des bedeutendsten Weisen seiner Zeit zuerkannt haben sollte, steht zu erwarten, dass es Sokrates wissendes Nicht-Wissen als höchste Stufe der Selbsterkenntnis angesehen hat, denn das „Gnothi seauton“ war ja als Motto der Weisheit nicht widerrufen worden, sondern wurde allenfalls durch einen neuen Interpretationsansatz einem erweiterten Verständnis erschlossen. Ob sich nicht auch dahinter eine Tücke verbirgt? Dies soll unsere nächste Überlegung sein.

 

Beginnen wir zunächst mit einer harmloseren Betrachtung des „Erkenne dich selbst!“

Der Spruch „erkenne dich selbst!“ wird oft mit einem Zusatz genannt: „Erkenne, wer und was du bist! Erkenne dich als das sterbliche, nicht göttliche Wesen, als den Men­schen.“

 

Hier besteht die Möglichkeit, den Spruch als Warnung vor „frevelhafter“ oder wirklich­keitsvergessender Selbstüberhebung zu verstehen. Ganz Ähnliches kennen wir aus der jüdisch-christlichen Tradition: „Herr, lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90) Zwar wird auch hier nicht gesagt, ob daraus ein­deutige Folgerungen für das Leben zu ziehen sind, und welche dies sind, aber der Spruch enthält in dieser Lesart weder etwas Hinterlistiges noch etwas Paradoxes. Er bringt einen „wirklichen“, „inhaltlichen“ Gesichtspunkt in Erinnerung, unter dem man das Leben betrachten kann und unter dem man es vielleicht auch mitunter betrachten sollte. So auch die römische Grabinschrift, die uns darauf aufmerksam macht, dass auch wir eines Ta­ges „gewesen sein werden“: „Fui, non sum, es, non fueris“, lautet die In­schrift. – Ich sehe darin eine Aufforderung, uns von unseren Alltagsinteressen von Zeit zu Zeit einmal ein wenig zu distanzieren und über unseren eingeengten Gesichtskreis ein wenig hinaus zu denken. Der Autor der römischen Inschrift wusste offenbar, wie sehr das Leiden an Horizontverengung unter Menschen zu allen Zeiten grassiert.

 

Auch für Horaz, den Dichter epikureischer Lebensklugheit, spielt der Todesgedanke eine besondere Rolle: Er rät uns, weit ausgreifende Pläne auf das Maß unseres einmali­gen und endlichen Lebens zurückzuschrauben. In diesem Fall soll uns die Bescheidung unserer Vorhaben vor nutzloser Ambition und Überforderung schützen. Um Raum da­für zu gewinnen, - wiederum vermittelst einer Wendung des „wohlfeilen Ungefährs“ gesprochen, -„worauf es wirklich ankommt.“ – Ich halte es für möglich, dass wir in die­sem Punkt in eine Mystik des Unaussprechlichen geraten. – Manchmal kommt es ein­fach darauf an, zur rechten Zeit im richtigen Zug zu sitzen.

 

Unentrinnbar ist in dieser Betrachtung nur unser letzter, eigentlicher und endgültiger Tod. Heutzutage überleben wir Menschen [in den westlichen medizinisch hochver­sorgten Ländern] sehr vieles [fast alles], aber unseren letzten und endgültigen Tod überleben wir auch heute nicht; - trotz Nahtoderfahrung u. dgl..

 

Die Zumutung der Einsicht in die eigene Sterblichkeit ist m. E. erheblich, aber für sich allein genommen nicht so niederschmetternd wie im Falle eines noch hinzukommenden un­entrinnbaren Verhängnisses in allen wesentlichen Einzelsituationen unseres Lebens. Der Tod ist unausweichlich, kommt aber noch ein Verhängnis hinzu, das sich von einer Entscheidungssituation zur nächsten ohne Möglichkeit der Gegensteuerung zwangsläu­fig vollzieht, dann wird unser Leben wahrhaft deprimierend, weil es dann sozusagen zu unserem Verhängnis wird, sterben zu müssen, bevor wir überhaupt gelebt haben. Die Einsicht in unsere Sterblichkeit kann deshalb durchaus ein Gesichtspunkt einer „huma­nisti­schen“ Psychologie sein, die Annahme eines blinden, unentrinnbaren Fatalismus m. E. nicht. Die Aufforderung zur Selbsterkenntnis derart, dass ich erkennen soll, dass es mein Verhängnis ist, mein Verhängnis nicht erkennen zu können, und ohne dass mir diese Selbsterkenntnis etwas sollte nützen können, halte ich in der Tat für schwarz- pä­dago­gisch und halsbrecherisch.

 

Auch Sokrates Standpunkt des wissenden Nicht-Wissens setzt zum Gesichtspunkt der Sterblichkeit des Menschen etwas Weiteres hinzu. Sokrates entdeckte, dass wir in vie­len Fällen dasjenige nicht wissen, was wir zu wissen glauben. In frühen Dialogen Pla­tons wird uns vorgeführt, wie Sokrates erkennt, dass wir in zentralen Dingen unseres Lebens lediglich einem Scheinwissen huldigen; - nämlich infolge der Unexpliziertheit unserer Grundbegriffe. Er drängt seine Gesprächspartner auf allgemeine Fragen nach Gerechtigkeit, Wahrheit, richtigem Leben, Freundschaft, Frömmigkeit und entdeckt, dass wir in allen diesen Themen über keine hinreichend präzisen Kriterien verfügen, um über das Zutreffen unserer Begriffe in verschiedenen Situationen zu entscheiden. Also wissen wir im Grunde genommen gar nicht, was es mit Wahrheit, Gerechtigkeit, richti­gem Leben u. dgl. auf sich hat.

 

Ich führe einige weitere Beispiele für Begriffe bzw. Begriffsversuche an, die wahr­scheinlich alle nicht hin­reichend präzisiert werden können, dennoch aber in unserer alltäglichen Verständigung in herausragender Bedeutung auf­treten: Gerechtigkeit, Frei­heit, Kultur, Religion, Ver­nunft, Wissenschaft, Fortschritt, Niveau, Bildung, Sünde, Tapferkeit, Vornehmheit, Wert, Moral, Wichtigkeit, Geschmack, Schönheit, Eleganz. Es fällt mir auf, dass es sich fast ausnahmslos um Phänomene der menschlichen Wirk­lichkeit handelt, meistens ver­bunden mit irgendwelchen wertenden Gesichtspunkten ethischer und/ oder ästheti­scher Art. Oft genug sind diese Begriffe darüber hinaus mit „ideologischen“ Konnotationen befrach­tet oder belastet. Wenn wir nun in mehr oder weniger offenen und freizügigen Ge­sprächssituationen mit diesen Begriffen bzw. ent­sprechenden Wortbedeutungen argumentieren, uns so­zusagen auf einem Assoziations­teppich bewegend, geschieht es fast zwangsläufig, dass wir die fraglichen Begriffe ent­weder zu weit oder zu eng fassen, um dann viel­leicht in der Not bei einer ursprüngli­chen und „eigentlichen“ Wortbedeutung aus der griechischen oder lateinischen Sprache unsere Zuflucht zu suchen, wenn dies möglich ist.

 

Was z. B. ist Kultur, fragen wir uns. – „Ein kultivierter Mensch ist ein Mensch mit ei­ner großen Woh­nung, einer Familie, Dienern und einem Automobil“, sagt jemand ver­suchsweise. – „Kultur ist Goethe, Schiller, Mozart und Beethoven“, sagt ein zweiter. „Mit Messer und Gabel essen“, ein dritter. –  „Zur ästhetischen Kultur gehört die Pflege der Beschaulichkeit in aller Tätigkeit“, hören wir von Paul Häber­lin. Und aus der Zei­tung wissen wir, dass es eine politische Streitkultur gibt, eine Gesprächskultur usw.. Meist erinnert man sich an diese „Kulturen“, indem man ihren Zerfall bedauert und be­klagt.

 

„Den Zustand, in dem sich einzelne Menschen oder Gemeinschaften mit Rücksicht auf ihre Tauglichkeit zur Bewirkung von irgendwelchen Zwecken befinden, nennen wir ihre Kultur“, schrieb Julius Ebbing­haus im Gefolge Kants. – Kant in der „Kritik der Urteilskraft“: „Die Hervorbringung der Tauglichkeit ei­nes vernünftigen Wesens zu be­liebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur.“ (S. 391) – „In’s Lebensdienliche umgearbeitete Natur“ u. dgl. ist mir von A. Gehlen in Erinnerung.

 

Und nun der Rückzug zur lateinischen Wortbedeutung: „colo, colui, cultus“ – a. bebauen, bearbeiten (den Acker) b. wohnen, ansässig sein c. Sorge tragen, schmücken d. verehren, anbeten. – Und nun die Frage in concreto: „Hat Hans Kultur?“ – Korrekte Antwort, die eigentlich in der Zurückweisung der Frage besteht: „Das kommt ganz dar­auf an, was du darunter verstehst!“

 

Bei Überlegungen bezüglich von Wortbedeutungen und Kriterien des Zu- und Abspre­chens von Prädi­katen, vornehmlich aus dem Bereich der menschlichen Lebenswirk­lichkeit, kann sich leicht der Eindruck einer „Zersetzung“ unserer Aussageinhalte unter dem analytischen Blick einstellen. Können wir wissen und verstehen, was wir sagen, wenn so viele unserer Worte und Formulierungen nur „ein wohlfeiles Un­gefähr“ (Th. Mann) bedeuten? Was ist gesagt mit dem, was wir sagen oder gesagt haben? – Man könnte versucht sein, unpräzise, bzw. nicht hinreichend präzise Reden in Bausch und Bogen einfach zurückzu­weisen und Annahmen, die ungeklärte Voraussetzungen ent­halten, probeweise einmal „auf Eis zu legen“. Leider aber zeigt sich, dass sich unklare Reden gar nicht so leicht vermeiden lassen, und dass sich das Spiel so­gar auf höheren Ebenen wiederholt. Wendungen des „wohlfeilen Ungefährs“ sind allgegenwärtig. Sie sind unse­rem geistig-sprachlichen Leben unentbehrlich. Auch unsere Begriffe von „Wortbedeu­tung“, „präziser Redewen­dung“ u. dgl. sind nur schwer – wenn überhaupt – zu definie­ren. „Definire“ – abgrenzen, näher bestim­men, festsetzen. - Bei Descartes z.B. ist der Begriff der „klaren und deutlichen“ Erkenntnis einer der hei­kelsten Punkte.

 

Letztlich sind wir „verdammt dazu“, bzw. „verurteilt dazu“, mit vagen Begriffsversu­chen [frag­würdigen Klassifi­kationskriterien] auszukommen. Sie lassen sich in vielen Fällen nicht vermeiden. Dies gilt vornehmlich für die „anspruchsvolleren Aspekte“ der menschli­chen Wirklichkeit, für Fakten mit historischen, gesell­schaftlichen, ökonomi­schen, psy­chologischen, normativen und anderen Aspekten. Wir sind hinsichtlich vie­ler, für uns sogar wichtiger Dinge nicht in der Lage, sie auf hinreichend präzise Weise zur Sprache zu bringen. Jedenfalls nicht so, dass alle berechtigten Rückfragen beant­wortet werden könnten. Wer nur hin­reichend präzise Formulierungen akzeptieren wollte, der müsste von vielen Dingen schweigen lernen.

 

In Folge unserer teilweise vagen Formulierungen wissen wir dann natürlich im Nachhi­nein nicht recht, was es eigentlich war und ist, was wir mit unseren Annahmen ange­nommen haben und was wir vermittels unserer ver­meintlichen oder wirklichen Er­kenntnisse tatsächlich erkannt haben. Wegen der unpräzisen, eventuell unpräzisierbaren Aussageinhalte in fast allen un­seren angeblichen oder wirklichen Einsichten und Wahr­heiten.

 

Wir müssen insbesondere mit Bedauern zugeben, dass es der Menschheit bisher nicht gelungen ist, in den elementarsten Fragen der Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit, sowie den entsprechenden Kriterien da­für, einen „Minmalkonsens“ bzw. ein „Minimal­ethos“ zu etablieren. Selbst eine Minimal-Definition im Sinne einer willkürlich festge­setzten, dann aber allgemein „gültigen“ Spielregel steht uns nicht zur Verfü­gung. Das „Spiel“ läuft zum Teil nach festgesetzten, zum Teil aber auch nach allererst zu finden­den Regeln.

 

Wer sich nach dem 11. September 2001 auf den allenthalben propagierten Kampf ge­gen den Terroris­mus verständigen möchte, steht vor dem Problem, dass von allen Sei­ten die jeweils andere Seite als terro­ri­stisch und menschenverachtend empfunden wird. Dabei wird keine der beiden Seiten den Begriff „Ter­ro­rismus“ so anerkennen, wie ihn die andere Seite bestimmen möchte. Da wir ohne Begriffe die Wirk­lich­keit aber nicht zu erkennen vermögen, wird die jeweilige Begriffsablehnung, die jede Seite wechsel­weise von der andern [bezüglich ihres Terrorismusbegriffs] erfährt, als „Denkverbot“ empfunden. Man wird zu „ideo­logiekritischen“ Betrachtungen fortschreiten. Miss­trauen, Verdacht, wechselseitige Unterstellung und Verschwörungstheorien sind damit zwangsläufig verbunden.

 

Ein sokratischer Wissensanspruch folgender Art erscheint mir berechtigt: Erkenn­bar ist, dass unsere Begriffe in vielen konkreten Fällen nicht hinreichend präzise sind, um uns in die Lage zu versetzen zu entscheiden, ob sie im gegebenen Einzelfall an­wendbar sind oder nicht. – Und genau in die­sem Sinn kann man Sokrates Denkfigur des wissen­den Nicht-Wissens verstehen. – Es würde sich in diesem Fall nicht um eine generelle Skepsis handeln, sondern um die Entdeckung, dass im Bereich der menschlichen Wirk­lichkeit viele auf den ersten Blick geeigneten Begriffe sich bei vertiefenden Rückfragen als nicht genügend bestimmt erweisen. – Die Begriffe bzw. die Begriffsversuche sind nicht hinreichend präzise, um berechtigte, vertiefende Rückfragen befriedigend zu be­ant­worten.

 

Um diesen Aspekt zu illustrieren, wähle ich eine Stelle aus Phaidros. Im Phaidros bringt Platon eine anmutige Dialektik um die Begriffe „Liebe“, „Wahnsinn“ und „Ver­nunft“ in Gang. Da besonders die erotische Verliebtheit [und Liebe] manchen Formen des Wahnsinns nahe komme, wäre es nach der dort versuchten Argumentation ratsamer sich mit Nicht-Verliebten [und Nicht-Liebenden] als mit Verliebten [und Liebenden] ein­zulassen. Denn es ist nicht leicht mit Vernunft zu begründen, dass man der Unver­nunft folgen solle, es sei denn, diese Unvernunft sei eine höhere Art von Vernunft. Die Rede von der „höheren“ Art der Vernunft führt uns aber wieder in eine schwer zu be­antwortende Rückfrage.

 

Sokrates spricht: „In allen Dingen ... gibt es nur einen Anfang für die, welche richtig ratschlagen wollen: sie müssen wissen, worüber sie Rat pflegen, oder werden notwendig das Ganze verfehlen. Die meisten nun merken nicht, dass sie das Wesen eines jeden Dinges nicht kennen. Als kennten sie es also, verstän­digen sie sich nicht darüber im Anfang der Untersuchung, und im Fortgang bezahlen sie dann die Ge­bühr, sie sind nämlich weder jeder mit sich selbst noch untereinander einig.“ [Phaidros, 237 b –c]

 

Sokrates beruft sich hier also tatsächlich auf das Phänomen der sprachlichen Verständi­gung mit nicht hinreichend scharf definierten Begriffen, worauf die Erzeugung von Widersprüchen [und „Aporien“] in seinen Dialogen beruht. Offen an dieser Stelle ist die Frage, ob es uns gelingen kann, unseren Sprachgebrauch von vornherein so weit explizit und ein­deutig zu gestalten, dass Missver­ständnisse und Widersprüche zu ver­meiden sind. Denn die Bedeutung der Wörter be­ruht oft nur auf stillschweigender Übereinkunft. Versucht man aber, stillschweigende Übereinkünfte durch ausdrückliche Übereinkünfte zu erset­zen, so erlebt man, dass dies nur zu geringem Teil gelingt, mit­unter sogar Endlosdis­kussionen und Widersprüche entste­hen. Damit ist die Situation des sokratischen [wissenden] Nicht-Wissens produziert: Es ist eine Situation der tat­sächlichen Dialog- und Kommunikati­onserfahrung, die hier beschrieben wird. Nicht hinrei­chend präzisierte Begriffe führen uns darauf, dass offene Fragen bestehen, die ei­gent­lich niemand beantworten kann. Vor allem finden sich letztlich keine Antworten mit einem allgemeinen Konsens.

 

Ich lasse hier die Frage offen, ob eine Abgrenzung zwischen Wissenschaften des menschlichen Lebens (mit mehr oder weniger unpräzisen Begriffen) und strengen Wis­senschaften mit effektiv definierten Begriffen durchführbar erscheint. Eine gewisse Zahl von undefinierten Grundbegriffen wird es in allen Erkenntnisbereichen geben, aber man kann sie eventuell in einer Ordnung von axiomatischen Grundaussagen orga­nisieren, was der Klarheit der entsprechenden Wissenschaft erheblich dient. Euklids „Elemente“ sind das wirkungsmächtigste Beispiel dieser Art von Wissenschaftsauffas­sung geworden. Auch außerhalb der Geometrie gibt es Beispiele für Axiomatisierun­gen. Man fin­det solche Beispiele als Anhänge in Büchern über moderne symbolische Logik im An­schluss an Frege, Russell und Carnap. Ein Beispiel zu Grundaussagen der modernen, relativistischen Physik hat mir besonders imponiert.

 

Der Begriff der physikalischen Energie z. B., - falls es sich hier um einen effektiv defi­nierbaren Begriff einer strengen und dabei wirklichkeitsbezogenen Wissenschaft han­deln sollte, ist enorm schwierig in seinem exakten Inhalt zu fassen. - Diesem Sachver­halt kontrastieren zum Teil „esoterische“ Konzepte geheimnisvoll zu verspürender Ener­gien [„prana“, „reiki“], die eigene Definitio­nen erfordern würden. Das physikali­sche Konzept tritt als quantitativer Begriff [„Zustandsgröße“] im Umkreis personenu­nabhängiger, „objekti­ver“ Messverfahren auf. Die Verwendung des Begriffs in der heutigen esoterischen Szene zielt m. E. weitgehend auf Imageverbesserung durch An­lehnung an die exakte Wissenschaft. – Weitgehend“, nicht „völlig“. - Dem entspricht auch die Rede von „Be­wusstseins“ und „Körpertechni­ken“, wo es eigentlich um den Menschen und nicht um „Techniken“ mit berechenbaren Wirkungszusammenhängen geht. Das alles zeigt in der Hauptsache unseren unkritischen Glauben an Na­turwissen­schaft und technische Machbarkeit. Das ist die Gestalt des Wissens, die heute die größte Anerkennung ge­nießt.

 

Das Wort „Energie“, - ebenfalls grie­chischen Ursprungs und dort in etwa „Wirklich­keit“ oder „Wirksamkeit“ bedeutend, mag uns heute sehr vertraut sein, aber der exakte Aus­sageinhalt z. B. des physikali­schen Konzepts ist uns zumin­dest sel­ten gegenwärtig. In vielen Situationen wüssten wir nicht zu sagen, ob wir das phy­sika­lische oder ein an­derswie definiertes Konzept von Energie sachlich berechtigt ap­plizie­ren, und welches es ist. - Die Vertrautheit mit gang­baren [„bekannten“] Konzepten führt uns zu sub­jektiv angenommen Sicherheiten ohne wirklichen Begriff. Wir glauben etwas zu wissen, in Wirklichkeit aber wissen wir nichts hinreichend Bestimmtes.

 

Das Orakel zu Delphi also rühmte den Sokrates, weil er erkannt hatte, dass wir nicht wissen, was wir zu wissen glauben, insbesondere im menschlichen Bereich [und insbe­sondere bezüglich dessen ‚anspruchsvolleren’ Aspekten]. Infolge einer weit verbreite­ten Unschärfe, mit der wir unsere Selbstauslegung vollziehen. - Zu allem Überfluss sind hier die angeblichen Zwecke selten die wirklichen. Von Freiheit und Gerechtigkeit wird geredet, um Macht und Ansehen wird tatsächlich gekämpft. Auch aus diesem Grund kann uns das Wort verdächtig werden. Es gibt einen moralischen Schein, für den wir sogar plädieren müssen, denn mit der offenen Missachtung aller guten Sitten wäre ja alles noch viel schlimmer. Die Heuchelei aber enthält zumindest die formelle Aner­kennung der Tugend.

 

Die Tatsache, dass wir die Erkenntnis der menschlichen Dinge mit fragwürdigen Be­g­riffen vollziehen, bedeutet für die Selbsterkenntnis zunächst folgendes:

 

Ich bin derjenige, der mangels genügend präzisierter Begriffe nicht weiß [und vielleicht gar nicht wissen kann], wer oder was er ist. Das ist der sozusagen „existentielle“ As­pekt des sokratischen Nicht-wissens. Man kann ihn auf die Spitze treiben, indem man erklärt, man wisse oder vermute, dasjenige Wesen zu sein, das von sich selbst nicht wissen könne, wer oder was es ist.

 

In dieser Variante entdecken wir ein Stück befreiender Kraft der sokratischen Refle­xion: unser Wesen und unsere typischen Eigenschaften kann durch Fremd- und Selbst­auslegung gar nicht so leicht festgestellt und festgelegt werden, wie wir das oft glauben, weil unsere (ange­nommenen) Begriffe gar nicht so viel beinhalten, wie wir glauben. Sie beinhalten oft nicht das, was wir glauben, oder wenigstens nicht so viel, wie wir glau­ben. Der aussage-analytische Blick „zersetzt“ [„zerfällt“] sehr viele angebliche Ge­wissheiten, allerdings wird uns durch seine Anwendung eine ei­gentümliche Art von Distanzierungsvermögen bezüglich unserer selbst und unserer Si­tuation bewusst. Falls sich daraus die sokratische Heiterkeit ergibt, die wir z. B. in Pla­tons Symposion oder im Phaidros verspüren, ist die Durchführung solcher Analysen nicht einmal eine unan­genehme Sache. Diese Heiterkeit kann sogar zur „Quelle glück­licher Einfälle“ werden, wenn man merkt, dass es für viele Situationen Optionen der Deutung gibt, die in man­chen Fällen sogar den Blick für bisher unerkannte Optionen des Handels öffnen. Der Ausweg findet sich allerdings nur selten da, wo man ihn sucht.

 

Sokrates also macht uns darauf aufmerksam, dass wir nicht wirklich wissen, was wir zu wissen glauben. Mangels ausreichender Präzision und Entscheidbarkeit unserer Be­g­riffe sind immer Situationen anführbar, in denen wir nicht entscheiden könnten, ob ein gegebener Aussageinhalt zutrifft oder nicht. Wir bemerken, dass bezüglich unserer Auffassungen von uns selbst und von der uns umgebenden Wirklichkeit offene Fragen bestehen, wir befinden uns in einer unumgänglich „hermeneutischen“ Situation. Ich nenne die Situation „hermeneutisch“, weil die Wendungen, vermittelst derer wir sie be­schreiben, vieldeutig und missverständlich, also der Interpretation bedürftig sind.

 

Die hermeneutische Eigenschaft unseres Bewusstseins besteht m. E. darin, dass unser Denken zwangsläufig mit deutungsbedürftigen Wendungen operieren muss. Logische Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins in teilweisem Unterschied dazu ist, dass wir uns nur vermittelst begrifflicher und aus­sage­mäßiger „Denkinhalte“ auf Gegens­tände dieses Bewusstseins beziehen können. Welcher Art aber dieser Begriffe sind, qualitativ oder quantitativ, präzise oder unprä­zise, davon weiß die „allgemeine“ Logik nichts. Der Hermeneutiker bringt den Sach­verhalt der Vielsinnigkeit und Mehrdeutig­keit vieler unserer „Denkinhalte“ und sprachlicher Wendungen zur Geltung und hat damit einen etwas konkreteren Ansatz als der logische Bewusstseins­philosoph. Durch den Ansatz bei den Denk- und Ausdrucks­mitteln gibt es eine Verbin­dung der philoso­phischen Hermeneutik zur ordinary-langu­age-Philosophie, auch wenn z. B. der späte Ludwig Wittgenstein sich eher an alltägli­che Beispiele gängiger Sprach­spiele hält, H. G. Gadamer dagegen große begriffs- und ideengeschichtliche Themen und Zusam­men­hänge favori­siert, z. B. im Falle des Frei­heits- oder Wahrheitsbegriff.

 

Hermeneutische Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins sind: Selektivität der Wahrnehmung, Multidimensionalität des Äußerungssinnes [einer Rede oder eines Textes], Assoziativi­tät der Redeweisen, analogisches Denken, modell-projizierendes Denken, poetisch-ver­dichtende Qualitäten des Denkens, Konstruktivität des Denkens, Flexibilität der Rede­wendungen usw.. Man kann wohl alle diese Merkmale beim Stu­dium von Überliefe­rungsketten [Traditionslinien] z. B. in Bezug auf religiöse Glau­bensinhalte entdecken. Hier erscheint eine Fortpflanzungsforschung bezüglich be­stimmter Redeweisen und Vorstellungskomplexe möglich. – Dabei sind es oft die un­präzisesten Begriffe, die am meisten Geschichte machen. So Ludwig Marcuse in sei­nem „Märchen von der Sicher­heit“. – Das Wort „Sicherheit“ umfasst übrigens eine im­posante Begriffsgeschichte von der reli­giösen certitudo [Heilsvertrauen] bis zur versi­cherungswirt­schaftlichen securitas. – „Securitas“ für „Sorglosigkeit“ bis „Schutz“.

 

Die Tatsache, dass letztem abschließende Worte in grundlegenden menschlichen Din­gen nicht gesprochen werden können, steht m. E. ebenfalls in engem Zusammenhang mit der hermeneutischen Dimension unseres Bewusstseins: unser Bewusstsein bewegt sich „unhintergehbar“ im Medium von Wendungen „des wohlfeilen Ungefährs“. – Die Unvollkommenheit unserer Sprache ist eine Seite der Medaille, die andere Seite ist eben eine enorme Flexibilität bezüglich vielfältiger, eventuell noch unbekannter Situa­tionen. Treffendes Sinnbild des „präzisen“ Begriffs wäre in der Tat das Bett des Prok­rustes: Beständig stehen wir nämlich mit unserem Denk- und Sprechvermögen vor Si­tuationen, in denen unsere „Kriterien“ nur „in etwa“ passen. Die Wirklichkeit müsste gedehnt und geschnitten werden, um unserem Fassungsvermögen zu entspre­chen, könnte es nur mit präzisen Begriffen operieren. In dieser Situation hat der Mensch es vorgezogen, eine fuzzy-Logik des „wohlfeilen Ungefährs“ zu entwickeln, die wohl eher „geübt“ werden muss als durch Regelwissen „gelehrt“ werden kann.

 

Es ist interessant zu sehen, dass man sich bezüglich fast aller alltäglichen Begriffsver­suche in aporetische Situatio­nen ma­növerieren kann. Das gilt nicht nur für Wertbegriffe und die äußerst schwierigen Fragen der vergeltenden Gerechtigkeit. Nehmen wir z. B. die Begriffe der Pflanze und des Tie­res, so ist leicht zu entdecken, dass die Wirklichkeit unentscheidbare Phäno­mene und „Übergangsbereiche“ enthält. In bestimmten wirkli­chen und erst recht in denkbaren Fällen und Situationen sind die Prädikate nicht ent­scheidbar. In solchen Si­tuationen drängt sich dann die Frage auf, was eigent­lich genau diese Prädikate beinhal­ten, und man landet bei dem vielleicht widersinnigen Unterfan­gen, präzise Kriterien für die Anwendung unpräziser Aussageinhalte herauszufinden.

 

Sokrates befreit uns aus dem Gefängnis unserer Meinungen und fixierten Erwartungen. „Ihr versteht nicht, was ihr zu verstehen glaubt. Fast jede eurer Aussagen fordert relati­vie­rende, einschränkende Folgeaussagen, um ihren Inhalt klar herauszustellen. Am Schluss kann niemand genau sagen, was ei­gentlich gesagt wurde mit dem, das gesagt wurde.“ Wir stoßen auf das Phänomen einer Sprachverwirrung, sobald wir den Versuch machen, hinreichend präzise, definitiv und unmissverständlich über die menschlichen Angelegenheiten zu sprechen.

 

Der Mensch ist nicht zu endgültigem und unmissverständlichem Wissen [Verstehen] von sich selbst und seiner Situation befähigt. Er weiß nicht einmal, was die Sätze über sich selbst bedeuten würden, falls sie wahr wären. Sie sind nicht eindeutig analysierbar, ihre Wahrheit ist nicht wirklich [endgültig] entscheidbar. [Nach dem Motto “Roma lo­cuta, causa finita.”] Hier ergibt sich das Thema: „Welche Fragen sind derart, dass die Antworten auf sie eindeutig auf wahr oder falsch entschieden werden können?]

 

Die Verwendung von „Wissen“ und „Verstehen“ nehme ich, dem Sprachgebrauch fol­gend, als weitgehend deckungsgleich.

 

Ein letzter Punkt: das Selbstdementi

 

Nach alle diesem bleibt eine sehr schwierige Frage offen. Sie stellt den Grund dafür dar, dass ich auch die Auszeichnung des Sokrates [als Weisesten der damaligen Zeit] zu den Perfidien des Orakels rechnen möchte. Enthält Sokrates wissendes Nichtwissen nicht ein Selbst-Dementi?

 

Th. Mann macht zu Beginn seines monumentalen Josephs-Romans folgende interessante Bemerkung: Der Geist erwirbt sich aus eigenem „gegen sich selbst sich richtenden Urteilsdrange“ einen schlechten Ruf. Dies entspreche seinem „Wesen“. Verschiedene, bedenkenswerte Formen von Selbst-Dementi fin­den wir auch in fernöstlichen Denksystemen. Beispiel: „Aus Wort-, Sinn- und Erkenntnis-Differenzie­rungen folgt nur eine verwirrte nachdenkliche Übereinstimmung.“ [Yoga-Sutra des Patanyali]

 

Gehen wir zunächst wieder zurück zu den Begriffen und der Tatsache, dass sie in vielen Fällen nicht hinreichend präzise sind, um zu einem eindeutigen Urteil (Aussage) zu gelangen. Sind Sokrates’ Begriffe hinreichend präzise um zu erkennen, dass so viele alltägliche Aussagen in ihrem Inhalt unbestimmt und somit in ihrer Gültigkeit [in vielen Fällen] nicht recht entscheidbar sind? Verfügen wir über einen Begriff des hinreichend präzisierten Begriffs? Verfügen wir über den entscheidbaren Begriff des wissbaren Wissens, um er­kennen zu können, dass wir mit unseren Alltagsmeinungen meistens gar nicht so viel zu sagen haben?

 

In einem ersten Versuch, diese Frage zu beantworten, müssen wir die Tatsache würdi­gen, dass sich Sokrates wissendes Unwissen aus der Erfahrung aporetischer, eventuell sogar fruchtloser Diskussionen in begrifflichen Fragen ergibt. Solche Erfah­rungen las­sen sich auch heute bei ent­sprechender Geduld jederzeit machen. Das Für und Wider z. B. in ethisch wertenden oder weltanschaulich allgemein gehaltenen Fra­gen mit einer Fülle verschie­dener Aspekte und fortwährend sich verschiebenden Ak­zenten kann den Sach­verhalt illustrieren. Wir helfen uns dagegen, indem wir allzu all­gemeine Fragen auf Detailfra­gen eingrenzen und in einem methodisch detaillierten Verfahren, einem Spiel nach eng umrissener Regeln und Standards detaillierte Prob­leme zur Entschei­dung bringen. - Natürlich spielen auch Machtworte und die Berufung auf entsprechende Au­toritäten eine große Rolle. - All­gemeine Fragen wie z. B. nach dem Unterschied von vernünftigem Religionsglauben und Religionswahn [superstitio] hat man wegen der Er­fahrung endloser, fruchtloser, oft sogar destruktiver und letztlich unentschiedener Strei­tigkeiten weitgehend aufgegeben. Bei allgemeinen Fragen nach der Wissenschaftlich­keit menschlicher Wis­senschaft oder der Gerechtigkeit menschli­cher Rechtssetzungen steht uns möglicher­weise Ähnli­ches bevor. Quot caputes, tot sententiae, das war bereits römische Lebens­klugheit. Un­serem Urteil durch ungewohnte und überraschende Sicht­weisen einer Situ­ation aufzu­helfen, ist eine Aufgabe, die z. B. einem Satiriker zufallen könnte. Sokrates Überlegun­gen im Phaidros, ob es nicht besser sei, vernünftigen und besonnenen Men­schen „in der Liebe“ „zu willfahren“ als denen, „die Liebe he­gen“, ist der Ansatz zu ei­ner philosophischen Re­flexion über die Vernünftigkeit unserer Ver­nunft in einem sati­rischen Gewand.

 

Man kann darauf antworten, dass wirklich vernünftige Menschen nicht wollen würden, dass man ihnen willfahre, sondern die Freiheit, besonders die der sexuellen Selbstbe­stimmung, achten. Aber auch das ist eine Wendung des wohlfeilen Ungefährs.

 

Aber zurück zu der Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn wir uns den Standpunkt einer prinzipiellen Unentscheidbarkeit all unserer Begriffe zu eigen machen!

 

Wenn all unsere Begriffe unentscheidbar wären, dann wäre auch der Begriff des unent­scheidbaren Begriffs in den Einzelfällen unserer alltäglichen Aussageinhalte jeweils unentscheidbar. Wir wüssten auch in diesem Fall nicht wirklich, was wir zu wissen glauben. Sokrates Ausspruch wäre ein Selbstdementi.

 

Und ein Selbstdementi sollte nach dem Spruch des Orakels die höchste Gestalt des uns erreichbaren Wissens sein? – Und weiter: Besteht z  B. die Möglichkeit, dass gerade der Satz von der Unentscheidbarkeit all unserer Begriffe in seiner Gültigkeit selbst un­entscheidbar [mangels hinreichend präzisierter Kriterien] ist? Und vielleicht dennoch wahr? – Sokrates kann vielleicht nicht wirklich wissen, dass er nichts weiß, aber er kann es vermuten. Möglicherweise hat er auf unentscheidbare Weise Recht. Das bedeu­tet dann aber auch, dass vieles von dem, was man zu wissen glaubt, vielleicht tatsäch­lich wahr ist, obwohl uns eine hinreichend präzise Gültigkeitsent­scheidung nicht ge­lingt. Wir wissen möglicherweise mancherlei, ohne dass uns die Vergewisserung wahr­haften Wissens wirklich gelingt.

 

Diesen Fragenkreis hat Sokrates offen gelassen. Allerdings geht der Platonische So­k­rates letztlich den Weg zu einem wirklich wissbaren Wissen [„Ideenlehre“], das sich von den alltäglich vorge­fassten Meinungen durch den Bezug auf „ideale“ Kriterien un­terscheidet. – Die Bewunderung für die Geometrie spielte hier eine große Rolle. - So lernt man bezüglich der menschlichen Dinge, die ideale Präzision nicht gestatten, zu­mindest die freizügige Abwägung des Für und Wi­der in delikaten Fragen [z. B. in puncto Eros und Liebe im Symposion], wo man bereits im Besitz der Wahrheit zu sein glaubte, es aber [infolge gelingender Herbeiführung apo­retischer Diskussionsla­gen] of­fensichtlich nicht ist. Platon versucht mit seiner Ideenlehre eine Antwort auf das Prob­lem des wirklich wissbaren Wissens zu geben. In­sofern also der platonische So­krates erkennt, dass in den meisten Fällen offene Fragen bestehen, nimmt er dies nicht als Rechtfertigung zur Universalskepsis [bei vielleicht gleichzeitig bestehender Bereit­schaft zu dezidierten Urteilen] und als letztes Wort, son­dern als Anreiz zu weiteren und vor allem besseren, mehr Erfolg versprechenden Fragen und Antworten. – Das ist auch ein wichtiger Punkt: andere Fragen stellen zu lernen, wenn bestimmte nicht weiter füh­ren. - Sokrates Be­haup­tung der Unentscheidbarkeit unserer alltäglichen Aus­sageinhalte wird derart zu einer Offenheit für ergänzende und vertiefende Rückfragen und bringt damit eine Be­wegung in Richtung auf befriedigenderes und besseres Wissen in Gang.

 

Wenn wir ihn also konstruktiv interpretieren, tritt er mit seinem wissenden Nicht-wis­sen aus der Perfidie des Orakels heraus und sagt uns:

 

„Ich verfüge über einen Vorbegriff von entscheidbarem Wissen, von dem aus ich viele Fälle von behauptetem Wissens als wesentlich unpräzise, ergänzungsbedürftig und zum Teil als unentscheidbar erkennen kann.“ Es könnte doch sein, dass uns die bloße Fik­tion ei­nes entscheidbaren Wissens [ein in bestimmter Hinsicht hinreichend präziser Be­griff des Wissens] in die Lage versetzt, von dem hypothetischen, fallibilisti­schen, zu­mindest aber ergänzungsbedürftigen Charakter aller sonstigen Behauptungen zu spre­chen. Wer jedenfalls lediglich das Faktum anführt, er habe bisher noch von kei­nen un­umstrittenen und sicheren Wissensbeständen gehört, der muss damit rechnen, viel­leicht doch ein­mal auf eine Ausnahme zu treffen. Bereiche wissbaren Nicht-wis­sens hängen offenbar [auf tiefgründige Weise] mit dem Anspruch auf Wissbarkeit um Wis­sen und Nicht-wis­sen zusammen.

 

Dieser Punkt führt uns m. E. letztlich in eine Philosophie Kantischer Machart: Was ist es denn, wovon wir etwas mit Gewissheit wissen können? Können wir z. B. wissen, dass unsere alltäglichen Begriffe nicht hinreichend präzise sind, um die Wahrheit unse­rer Aussagen zur Entscheidung zu bringen? Und in welchen Gebieten sieht das anders aus? – Hier ergeben sich die traditionellen Anlehnungen an mathemati­sche und geomet­rische „Wissensformen“, die Bewunderung von Euklids Axiomatik, die Propagierung zunächst mathematischer, dann aber auch empirisch-naturwissen­schaftlicher Standards [nach entsprechend großartigen Erfolgen]. Es handelt sich um Versuche, sich der In­halte und der Rationalität[en] anerkannt wissenschaftlicher Ver­fahren zu vergewissern, um sie eventuell auf unerschlossene Bereiche auszudehnen. Im Vorfeld einer Theorie menschlichen Wissenkönnens steht der berechtigte Versuch, Bei­spiele für verschiedene Arten von Wissenssicherheit und Evidenz zu finden.

 

Letztlich bleibt die Frage nach der spezifischen Rationalität dieser Vergewisserungs­versuche üb­rig. Entscheiden wir z. B. über die Gültigkeit eines Rationalitätskriteriums empirisch hypothetisch oder a priori und definitiv? Wenn wir z. B. Kriterien bezüglich Verifizier­barkeit oder Falsifizierbarkeit irgendwelcher Aussagen propagieren, ist dann unsere Aussage über diese Kriterien selbst nach diesen Kriterien zu erhärten oder ma­chen wir in eigener Sache vielleicht gerne einmal eine Ausnahme?

 

Das Ende des Wegs der Frage nach dem Wissen- und Erkennenkönnen wird in der Ein­sicht erreicht, dass eine spezifische Form von nicht-hypothetischem, genuin philosophi­schem Wissen nur als Selbsterkennt­nis der Ver­nunft bzw. als Erkenntnis der nicht-hypothetischen Erkenntnisart [„worin Erkenntnisse sol­cher Art bestehen könnten“] möglich ist. Die Frage nach dem Weg [Methode] ist in diesem Falle das Ziel selbst. Die Erörterung darüber, unter welchen Bedingungen ein Thema für ein solches Erkennen und Wissen in Frage käme, ist die „Sache“ dieses Wissens selbst. Selbsterkenntnis und Selbstbeschränkung der reinen Vernunft fallen in eins. Es ist nicht vernünftig, der Ver­nunft zuviel oder zuwenig zuzutrauen. Es ist Sache der Vernunft, ihrer Grenzen inne zu werden.

 

Nicht-hypothetische Erkenntnisse können allein bestehen in der Erkenntnis der Anforderungen [Gültig­keitskriterien] an Erkenntnisse nicht-hypothetischer Art. Inhalt und Ziel des nicht-hypothetischen Wis­sens ist also lediglich bzw. immerhin die Methode dieser Art von Wissen. Kantisch gesprochen: Er­kenntnisse a priori sind als Erkenntnis der Erkenntnisart möglich.

 

Zusatz 1: Ich spreche vom „Logischen“ unseres Bewusstseins im Sinne von Kants „all­gemeiner Logik“. Diese „Logik“, - auch das Wort „Logik“ ist vieldeutig -, sieht die be­griffliche und urteilsmäßige Beschaffenheit unserer Erkenntnisse in einem wesentlichen Zusammenhang mit der Ich-Zentriertheit des menschlichen Bewusstseins. Das „Ich-denke“-Bewusstsein ist ein „Vermögen“ der „logischen Form unserer Erkenntnisse“, d.h. von Erkenntnissen „vermittelst“ von Begriffen, Urteilen [und Schlüssen]. – Beg­riffe gewährleisten das Denken von etwas „als etwas“, d. h. sie stellen [im Idealfall ein­deutige, in der Praxis manchmal hinreichend präzise] Klassifikationskriterien [von et­was als etwas] dar. Sie sind aber wesentlich abstrakte „Denkinhalte“, insofern sie auf Merkmale abzielen, die in verschiedenen Situationen wiederkehrend realisiert sein können. – Urteile stellen Beg­riffsanwendungen [oft Begriffsverbindungen] auf gege­bene Situationen dar, die wahr, falsch, unsinnig, entscheidbar, unentscheidbar, auch z, B. empirisch entscheidbar, a pri­ori unentscheidbar usw. sein können. – Die Mengen­überschneidung z. B. „einige Frauen sind sehr schön“ entspricht der Existenzaussage „es gibt sehr schöne Frauen“. Im Falle der Aussagewahrheit „es gibt genau einen blauen Planeten“ hätten wir eine singuläre Referenz, also ein bestimmtes, in verschie­denen Situationen wiederkehrendes „Ding“, von dem wir etwas denken und aussa­gen können, nämlich unsere Erde.

 

Zusatz 2:

 

Wenn wir auf das geistige Innere unseres Bewusstseins reflektieren, ergibt sich das Thema des reinen Ich im Unterschied zu all dem, was Inhalt meines Bewusstseins zu sein vermag. Und zwar: im Unterschied zu allem subjektiven und objektiven Inhalt meines Denkens gleichermaßen. – Anstatt von „Form“ und „Inhalt“ meines „Bewusst­seins“ kann ich auch von „Form“ und „Inhalt“ meines „Denkens“ sprechen. – Ich kann auch die Metapher vom „Inneren“ meines Denkens im Unterschied zum Nicht-Inneren, also wiederum den „Inhalten“ oder „Gegebenheiten“, sprechen. – Ähnlich die anderen „Reflexionsbegriffe“: Die [numerische] Identität, bes­ser vielleicht die Ununterscheid­barkeit des Denkens selbst [in eine Vielheit von „Selbsten“] im Unterschied zu inhalt­lich vielfältigen Denkinhalten, oder die unteilbare Einfachheit des Denkens selbst im Unter­schied zu inhaltlich vielfältigen Denkinhalten. All diese Bestimmungen beruhen darauf, dass ich bezüglich meines Denkens ein „Dass“ des Denkens von einem inhaltli­chen „Was“ zu unterschieden vermag. – Man könnte auch sagen: ich vermag Subjekt und Objekt des Denkens zu unterscheiden. Das birgt allerdings Anlass zu Missver­ständnissen, weil viele den körperlichen Menschen als „Subjekt“ bezeichnen. Sprin­gender Punkt der Überlegung ist aber, den Gedanken des Denkens selbst in allem Den­ken, also das nicht-empirische Ich-Selbst zu erfassen.

 

Gerade weil der Gedanke des reinen Ich-Selbst in der Unterscheidung von Form und Inhalten des Denkens gründet, kann ich nun nicht mehr sagen, was dieses reine Dass „des Denkens überhaupt“ inhaltlich sei. Es sollte ja von allem Inhalt des Denkens abs­trahiert werden. Es soll von allen Inhalten des Denkens unterschieden werden. Also ist die Frage nach den wesentlichen oder unwesentlichen Eigenschaften des reinen Ich-Selbst ein Sophisma, weil sie die Anweisung, auf das reine Ich zu reflektieren, im Nachhinein wieder missachtet.

 

Man könnte allerdings von einem reinen, nicht-empirischen Ich als eigentlichem Wesen sprechen, darf es aber nicht mit der „Form des Bewusstseins“ gleichsetzen, sondern müsste dazu etwas nicht-empirisch Inhaltliches, also eine meta­physische Realität da­zutun. Dafür aber gibt es keinen inhaltlichen Anhaltspunkt, ledig­lich die Begriffsbil­dung bezüglich einer Entität dieser Art ist ohne Widerspruch. Aber unser Denken ist damit über alle Arten des Gegebenseins hinaus, sowohl hinaus über die Gegebenheit subjektiver Bewusstseinsin­halte als auch hinaus über objektiv gültiges Tatsachenbe­wusstsein.

 

Mit alle dem ist gesagt, dass das Bewusstsein des inneren Ich keinen Denkinhalt, kei­nen Erkenntnisinhalt und keinen Gegenstandsbezug birgt. Das Bewusstsein des den­kenden Wesens in unserem Bewusstsein beinhaltet die Fähigkeit, oder referenziert auf die Fähigkeit, Form und Inhalt unseres Denkens zu unterscheiden und ist eigentlich ein Bewusstsein der Bewusstseinsfähigkeit selbst, ein Bewusstsein oder Denken des Den­kens selbst. Es ist ein Etwas der Denkbarkeit, das gemäß seiner Rezeptur eigentlich kein Etwas ist. Auch insofern ist es dem Ich in unserem Denken ganz unmöglich zu denken, wer oder was es ist.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003

 

 

In den Abschnitten über den Ödipus-Mythos und Sokrates verdanke ich einer Radio-Sendung in SWF 2 vom 27.01.2002 weitgehende Anregungen:

18.30 RadioART: Feature am Sonntag Aporia - Ausweglosigkeit

Von Garleff Zacharias-Langhans:

„Der Begriff Aporie meint die Erfahrung, dass »man nicht weiter weiß«. Gerade darum fängt mit ihr et­was an: etwas Neues, ganz Anderes. Daher blickt man zurück. Der Ausweg ist da wohin man nicht sieht. Es bedarf einer schwierigen Prozedur, einer Umlen­kung der Seele -, sagt Platon oder Sokrates, damit der Blick vom Abgelebten, die Seele von den Bildern des Gewesenen sich löse.“