Vom evolutionären Erbe der Menschheit

 

Unser Gehirn ist 120 000 Jahre alt und hat sich seitdem nicht mehr nennenswert weiter entwickelt. Die biologische Entwicklung unserer natürlichen Grundausstattung war bereits zu diesem Zeitpunkt weitgehend vollendet, die kulturelle Entwicklung unserer Traditionen, Fähigkeiten und Lebensweisen begann.

 

Unsere Urahnen zogen in kleinen Horden von ca. 40 bis 50 Personen durch die afrikanische Savanne. Die Urväter gingen in Waffen voran, und die damaligen Damen trugen ihnen den Hausrat hinterher. Jeder kannte jeden, man reagierte reizbar und affektvoll auf Gefahrenwarnung und Zuruf. Die damalige Überlebensgemeinschaft war eine Zurufgemeinschaft. Ihre Hierarchie hing weitgehend von körperlichen Vorzügen ab. In der Hauptsache kam es darauf an, ob man stärker oder schneller als ein potentieller Gegner war. Je nachdem suchte man sein Glück entweder im Kampf oder in der Flucht.

Sofern – sofern – unsere emotionale und intellektuelle Ausstattung evolutionärer Prägung entspricht, passt unser emotional- intellektuelles Leben zu diesen steinzeitlichen Lebensverhältnissen, ist nahorientiert, personenbezogen, eher emotional wertend als beobachtend, von der Angst ums Überleben dominiert, auch stark von Ausschlussängsten bestimmt. Außerhalb der Gemeinschaft hatte der einzelne keine Überlebenschance. Deshalb war ihm sein Ansehen in der Gruppe von „existenzieller“ Bedeutung. Das ist die prähistorische Grundlage unseres Gefühls für Ehre und Schande. Meinungen von den Meinungen, die andere über mich haben oder haben könnten, wie Arthur Schopenhauer formuliert.

So saßen sie damals in der Nacht am Lagerfeuer und heulten wie die Wölfe zum Mond, je nachdem welchen Ton der Rudelführer vorgab.

Kaum der Rede wert, dass dieser Rudelführer selbstverständlich alle Frauen, die ihm gefielen, beglücken durfte. Auch die Frauen hielten dies in der Regel für den natürlichen Gang der Dinge. Die Verbindung von Sex und Macht ist also ebenfalls prähistorisch.

Der Widerstreit unseres evolutionären Erbes mit den Anforderungen des Lebens in einer modernen, hochkomplexen Umwelt „erklärt“ viele Phänomene der unglücklichen Stellung des Einzelmenschen in unserer Zeit. Z. B. Denken im Freund- Feindschema, Ressentiment gegen fremde Personen, Personalisierung struktureller Probleme in Familie und Gesellschaft, manche Diskrepanz [Zwiespältigkeit] zwischen Verstand und Gefühl, ständiger Bedarf an affektvollem Stress und Stimmungsmache bei gleichzeitig bestehender Notwendigkeit, strategisch und weitblickend zu denken.

 

Kant, obwohl noch einige Generationen vor dem eigentlichen Evolutionsgedanken, spricht in entsprechendem Zusammenhang vom Phänomen des Widerstreits von Natur und Kultur. [Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, AA VIII, Anmerkung S. 116 f.] Alle „wahren Übel“, die „das menschliche Leben drücken,“ „und alle Laster, die es verunehren“ entspringen seiner Meinung nach aus diesem Widerstreit. Er führt drei Beispiele dieses Widerstreits an: 1. die Diskrepanz von biologisch- sexueller und gesellschaftlich- bürgerlicher Initiation, 2. das ars longa, vita brevis des Hippokrates und 3. die Ungleichheit des allgemeinen Menschenrechts als Entwicklungsbedingung der Kultur. Die Menschheit seufze besonders unter dem letzten Übel, das sie sich „aus Unerfahrenheit selbst antut“.

 

Wir können froh sein, dass alle unsere prähistorischen Vorfahren – in diesem Falle: dem heutigen Menschen der biologischen Art nach sehr nahestehende Arten – ausgestorben sind: Wir hätten vermutlich große Entscheidungsschwierigkeiten, welche unserer Ahnen wir in den Zoo sperren und welche wir frei herumlaufen lassen sollten.

 

Wir haben zu über 98 % dieselben Gene wie die höheren Primaten und zu 30 % dieselben Gene wie ein Salatkopf. Das gibt uns das Gefühl, irgendwie dazu zu gehören.